Digitale Schule während der Covid19-Krise (2) – Grundlegende Betrachtungen
Wie schon in Teil 1 des Beitrags skizziert, waren die Leistungen der Lehrkräfte sehr heterogen und die Wahrnehmungen der Schulsituation während des Lockdowns divergierte stark zwischen Lehrkräften und Eltern. Aus Sicht der Schulleitungen gab es viel positive Veränderungen bei ihren Lehrkräften (was faktisch stimmt!), während aus Sicht vieler Eltern sich zu viele Lehrkräfte so benahmen, als ob sie für das Kindswohl nicht mehr verantwortlich wären.
Einige Lehrkräfte kommunizierten ihr Abschieben, respektive Wegweisen, der Verantwortung sogar explizit. Im Sinne von: It’s your problem, Mami! Ein Schelm, wer in solch einem Verhalten (nicht) eine Retourkutsche für den Reputationsverlust der Lehrerschaft und Jahrzehnte des Sich-Wichtig-Machens der Eltern sieht.
Der wünschenswerte, aber unwahrscheinliche neue Schulkonsens
Die unterschwelligen Konflikte – die unterdrückte Wut und Empörung auf beiden Seiten – laden dazu ein, alles ganz schnell zu vergessen und nach der Krise weiterzumachen wie vor der Krise. Am besten, nur politisch korrekt darüber sprechen, oder. Das hiesse freilich: Ausser Schaden nichts gewesen: eine beschädigte Generation und keinerlei Nutzen! Besser wäre es, aus der Gesundheitskrise Lehren zu ziehen, das Positive weiterzuführen und das Negative zu beheben.
Damit dies nachhaltig wirksam möglich ist, sollte das Miteinander von Lehrkräften und Eltern neu verhandelt werden, wobei beide Seiten aufeinander zugehen müssten. Das ewige Erzielen von kleinen Vorteilen, welches die schweizweite Zusammenarbeit in vielen Bereichen hemmt, müsste im Fall der Digitalen Schule überwunden werden. Wir müssten das Taktieren hinter uns lassen und die Rolle und das Ansehen der Lehrerinnen und Lehrer aufwerten. Gleichzeitig müssten wir diese aber auch in die Pflicht nehmem, sich die neuen digitalen Werkzeuge anzueignen und digitale Unterrichtsformen mit zu entwickeln.
Natürlich erscheint dies illusorisch, denn es würde einen langanhaltenden Trend ins Gegenteil verkehren. Doch denkbar ist es. Denn worauf sich hoffentlich alle einigen können, ist, dass gute Lehrkräfte einen grossen Unterschied ausmachen. Oder gibt es in dieser Frage schon Dissens? Hoffen wir wirklich auf die Unterrichtsmaschinen?
Eine gute Lehrkraft sein heisst in der Gegenwart auch, digital pädagogisch wirksam unterrichten zu können. Es bedeutet zudem, in Zeiten der physischen Trennung den sozialen Kontakt mit den Schülerinnen und Schülern zu halten und dazu beizutragen, dass diese die Orientierung behalten und adäquates Feedback erhalten. Und es beinhaltet eine aktive Beteiligung an der Weiterentwicklung des eigenen Berufs in Sachen digitaler Transformation. Wenn wir uns darauf einigen könnten, dann sollte es selbstverständlich sein, dass solche Qualitäten hohe Wertschätzung verdienen – und dass Wertschätzung, die den Namen verdient, auch alle miteinschliesst, welche diese Qualitäten anstreben. Umso mehr, als es einige Evidenz dafür gibt, dass eine höhere Reputation der Lehrerschaft auch zu einer höheren Wirksamkeit des Unterrichts führt.
Sollte – erwartungsgemäss – ein neuer Grundkonsens dieser Art zur Zukunft der Schule nicht gefunden werden, dann sollten Schulleitungen und Lehrkräfte trotzdem versuchen, sich für die digitale Zukunft vorzubereiten. Aus Verantwortungsbewusstsein für die Zukunft des Landes! Und hoffentlich mehr noch aus Freude an ihrer Verantwortung für Kinder und Jugendliche!
Die zehn Pfeiler für die Digitale Schule
Zugegeben, der Graben zwischen analoger und digitaler Welt ist sehr breit ist. Im Bereich der Schule ist er breiter noch als in der Wirtschaft oder in der öffentlichen Verwaltung. Er kann aber überwunden werden kann, wenn Schulen und ihre Lehrkräfte eine Brücke bauen, die sie auf tragfähige Pfeiler stellen. Zu diesen Pfeilern zählen
- Positives Framing der Herausforderungen durch die Schulleitung und Wissen um die Probleme, sowie hohes Engagement und Lust am eigenen Lernen bei den Lehrkräften
- Digitale Skills/Fertigkeiten im Umgang mit digitalen Werkzeugen und gute technische Infrastruktur bei allen Beteiligten – inklusive Schülerinnen und Schülern (und Eltern)
- Support und Coaching bei technischen Problemen und Nutzungsproblemen für die Lehrkräfte und die Schülerinnen und Schüler
- Aneignung der digitalen Werkzeuge für Erfüllung der eigenen Aufgaben durch die Lehrkräfte – nicht nur für das Vermitteln von Stoff, sondern auch für den in Krisensituationen noch wichtigeren sozialen Kontakt
- Wille zur und kreative Gestaltung der Co-Produktion von Unterricht – an der Hochschule sind die «Produktionspartner» der Lehrkräfte die Studierenden selbst, in Primar- und Sekundarschule sind es primär die Eltern
- Studium der praktischen Herausforderungen des digitalen Unterrichts und des Kontexts, in dem er stattfindet – basierend auf einem Big Picture, welche Aufgaben und besonderen Fähigkeiten Schule hat, respektive haben soll
- Konsequentes Erlernen von Good Practices durch Ausprobieren, Beobachten und Reflektieren der Wirkungen
- Schulinterner und schulübergreifende Austausch von Wissen und Erfahrungen – inklusive Kopieren/Adaptieren der Good Practices anderer und Teilen der eigenen Strategien und Tricks, damit andere diese übernehmen können
- Offene Zusammenarbeit mit allen bei der Entwicklung besserer digitaler Lernwerkzeuge zur aktiven Mitgestaltung der technologischen Entwicklungen in diesem Feld
- Erforschung wirksamer Praktiken und Vermittlung des neuem Wissens und Knowhows zur «Digitalen Schule» durch Ausbildung und Weiterbildung an den Pädagogischen Hochschulen
7. und 8. sind dabei zentral. Leider versuchten die Schulen die Brücke von analoger Welt zu digitaler Welt jeweils allein zu bauen und die Kantone setzten durch unterschiedliche Rahmenbedingungen eins oben drauf (ganz zu schweigen vom fehlenden Blick über die Grenze). So kam an den wenigsten Orten genügend Wissen zusammen, um erfolgreich eine digitale Schule in der Gesundheitskrise zu realisieren.
Nicht alle der skizzierten Pfeiler müssen ähnlich stabil sein, in Summe müssen sie aber genügend belastbar sein, damit sie das Schaffen neuer digitaler Handlungsoptionen in der Schule ermöglichen. Diese braucht es nicht nur, falls eine zweite oder dritte Welle neuerliche Lockdowns erzwingt. Sie können auch genutzt werden, um Versäumtes nachzuholen (was zu häufig im Schweizer Schulsystem unterbleibt), die Bildungsklassenunterschiede zu verkleinern (welche in manchen Kantonen stark korrelieren mit den Einkommensklassen der Eltern) und gleichere Bildungschancen für Kinder aus bildungsfernen Familien zu schaffen.
Das falsche Gegenargument
Das Gegenargument gegen solche Vorhaben ist sehr häufig das Gleiche: Das ist nicht umfänglich möglich. Digitale Schule wird nie so erfolgreich wirken wie analoge Offline-Schule. Nicht alle Aufgaben und Kernkompetenzen der Schule lassen sich digitalisieren. Vieles ist digital bislang noch gar nicht gelungen (beispielsweise Lesen lehren). Und: die Benachteiligung der Kinder aus bildungsfernen Milieus lässt sich nicht beseitigen. Den Kontaktverlust zu einigen Kindern während einer Krise kann man nicht verhindern. Und so weiter, und so fort.
Alles richtig, aber nach dem exklusiven Nur-Null-oder-Eins-Prinzip gedacht. Es geht nicht um ein Entweder-Oder zwischen analogem und digitalem Unterrichten. Es geht nicht um die Herstellung einer heilen, sprich für alle gleichen, Bildungslandschaft. Es geht vielmehr darum, dass wir uns weiterentwickeln und lernen, dass wir Möglichkeiten ausprobieren und dass wir Verbesserungen anstreben. Krisen bieten neben allem Negativen und Furchtbaren fast immer auch die Chance zur Entwicklung. Das – so kann man im Fall getrost sagen – war schon immer so.
Referenzen (chronologische Reihenfolge)
- Dominik Petko, Beat Döbeli Honegger und Doreen Prasse: Digitale Transformation in Bildung und Schule: Facetten, Entwicklungslinien und Herausforderungen für die Lehrerinnen- und Lehrerbildung, Beiträge zur Lehrerinnen- und Lehrerbildung, 36 (2), 2018
- Sabine Seufert, Josef Guggemos und Eric Tarantini: Digitale Transformation in Schulen – Kompetenzanforderungen an Lehrpersonen, Beiträge zur Lehrerinnen- und Lehrerbildung, 36 (2), 2018
- Ulrike Cress, Ira Diethelm, Birgit Eickelmann, Olaf Köller, Reinhold Nickolaus, Hans Anand Pant, Kristina Reiss: Schule in der digitalen Transformation – Perspektiven der digitalen Bildungswissenschaften, acatech Diskussion, 2018
- Gabriele Glaube: Digitale Bildung als soziotechnische Grundbildung, bildung+ schuledigital, 1/2019
- Amt für Volksschule, Kanton St- Gallen: Volksschule im Kontext der digitalen Transformation, Februar 2019
- Rahel Tschopp: Den Digitalisierungsprozess in der Schule voranbringen (Vortragsfolien), edubs.ch, 21.2.2019
- SRF Kulturplatz: Die Schule – Aufbruch ins digitale Zeitalter (Video), 13.3.2019
- Susanne Gokus, Luise Ortloff & Thomas Lange: Bildung in der digitalen Transformation – Playdoyer für einen Bewusstseinswandel, in: Alexander Franz Koch, Stefan Kruse. Peter Labudde (Herausgeber): Zur Bedeutung der technischen Bildung in Fächerverbünden, Springer Spektrum 2019
- Barbara Geier und Manfred Brinkmann: Lehrkräfte und digitale Bildung in Zeiten von Covid-19, gew.de, 2.4.2020
- Nils Pfändler: Die Corona-Krise verleiht der Digitalisierung der Schulen einen längst fälligen Schub, NZZ-Online, 7.4.2020
- Bernhard Gaul: War das schon alles? Oder: Wo bleibt eigentlich die digitale Schule?, Kurier Online, 22.4.2020
- Kronen Zeitung: Corona macht deutlich: Schulen hinken digital nach, krone.at, 24.4.2020
- Susanne Klein, Henrike Rossbach und Kai Strittmatter: Im digitalen Dickicht – Unterricht in der Corona-Krise, Süddeutsche Online, 24.4.2020
- Edith Meinhardt: Corona und Schule – «Der Staat hat in unseren vier Wänden nichts verloren», Profil Online, 27.4.2020
- Flavio Razzino: Beim digitalen Unterricht muss die Schweiz nachsitzen – Schulen waren schlecht auf E-Schooling vorbereitet, Blick Online, 29.4.2020
- Heinz Moser: Wie Corona die Digitalisierung der Schulen beschleunigt, Infosperber, 29.4.2020
- Johanna Kiesler: Noch ganz am Anfang – Digitalisierung der Schulen, MDR Medien 360g, 30.4.2020
- Antonia Beckermann: Warum deutsche Schulen beim digitalen Arbeiten versagen, Welt Online, 30.4.2020
- Vera Linss und Marcus Richter: Homeschooling in der Coronakrise – Wie Schulen das digitale Lernen verbessern können, Deutschlandfunk Kultur Online, 2.5.2020
- Julia Barthel: Digitaler Unterricht in Zeiten von Corona – Es fehlt die direkte Kommunikation, Netzpolitik.org, 12.5.2020
- Schulgschichtn.com: Wie Corona die Schulen verändern kann, derstandard.at, 13.5.2020
- Bob Blume: Vom Frontalunterricht zum digitalen Lernbegleiter, ZeitOnline, 15.5.2020
- Gesellschaft für Informatik e.V.: Offensive digitale Schultransformation – 7 Handlungsempfehlungen (Pressemitteilung am 18.5.2020)
- Pierre Gigon: Schule, Fernunterricht und BNE, 19.5.2020
- Stephan Gerhard Huber, Paula Sophie Günther, Nadine Schneider, Christoph Helm, Marius Schwander, Julia Schneider, Jane Pruitt: COVID-19 und aktuelle Herausforderungen in Schule und Bildung
- Erste Befunde des Schul-Barometers in Deutschland, Österreich und der Schweiz (eine ausführliche Studie basierend auf einer Befragung von über 7000 Personen vom 24. März bis zum 5. April 2020), Waxmann-Verlag 2020 (Open Access Publikation)
- Nils Landolt: Für Familien ist der Fernunterricht eine Zukunftsperspektive, eduport.ch, 4.6.2020
- Melina Maerten / VSLCH: Corona-Krise als Frischzellenkur für die Schulen, blog.phzh.ch, 5.6.2020
- Julian Nida-Rümelin und Klaus Zierer: Digitale Bildung – Vernunft und Empirie als Antwort auf eine entgleiste Debatte, NZZ-Online vom 8.6.2020
Acknowledgements
Wesentlichen Anteil am Entstehen dieses Beitrags (inklusive der weiteren Teile) hatten Nada Endrissat, Thomas Gees, Martin Halter, Christoph Luchsinger, Tine Melzer, Thomas Jarchow – von Büren, Reinhard Starka und Anne-Careen Stoltze-Siebmann. Unser Dank gilt auch Alain Gut und den Kolleginnen und Kollegen in der der Bildungskommission von ICT-Switzerland, sowie Kolleg*innen von Parldigi, mit denen wir uns austauschen konnten. Angeregt wurde die Serie «Lehren aus der Covid19-Krise» durch Ingrid Kissling-Näf. Betreut wird sie von Anne-Careen Stoltze-Siebmann.
Die Serie «Lehren aus der Covid19-Krise»
Teil 1: Eine Situationsanalyse ist am 5. Juni erschienen.
Teil 3: Konkrete Empfehlungen erscheint am 19. Juni.
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