Digitale Schule während der Covid19-Krise (1) – Eine Situationsanalyse

Die Gesundheitskrise hat uns gezeigt, wie wichtig die Lehrerschaft ist. Nach Jahrzehnten des stetigen Reputationsverlusts der Lehrerinnen und Lehrer haben wir ihre Unersetzbarkeit demonstriert bekommen. Einerseits waren die Kinder zu Hause eine grosse Belastung für viele Eltern, anderseits gab es grosse Unterschiede, was die Qualität des Unterrichtsangebots durch die Lehrerinnen und Lehrer während der Lockdown-Phase betraf. Manches lief toll, vieles gut, aber einiges funktionierte gar nicht.

Die Heterogenität war sehr gross. Die Divergenz der Wahrnehmung, wie gut oder schlecht die Schule in der Lockdown-Phase funktionierte, ist noch grösser. Es gibt den Super-wie-es-lief-Diskurs unter Schulverantwortlichen ebenso wie die Beinahe-Verzweiflung vieler Eltern. Immerhin wurde an der einen und anderen Stelle klar, dass Schule viel mehr ist als Unterricht von Wissen und Knowhow. Aber eine grosse Rolle spielte das weder in der Praxis noch in der Diskussion darüber. Die Bereitschaft zur ambivalenten Wahrnehmung der Schule in der Krise war gering, die multiperspektivische Betrachtung fand nur sehr vereinzelt statt.

Wir haben fast alle eine Meinung über Schule. Es gibt ein irres Büschel an kreativen Transformationsideen für die Schule, welches so bunt ist, dass die Absenz digitaler Transformationsideen vor der Krise kaum jemandem aufgefallen ist. Aber wir sehen den Wald vor lauter Bäumen nicht. Das Big Picture, was Schule in ihrer Gesamtheit sein soll, existiert nicht. Wir sollten darum aus der Krise lernen, dass es auch in unserer postindustriellen Zeit mit ihren neuen, bildungsbestimmten Sozialstrukturen und ihrem inhärenten Widerspruch zwischen neoromantischer Glückskultur und neubürgerlicher Reputationskultur solch ein Big Picture braucht.

Wenn wir genau hinschauen, so hat uns die Gesundheitskrise vor Augen geführt, dass uns kaum bewusst ist, was eine digitale Transformation der Schule alles leisten muss. Beispielsweise läuft Motivation zum Lernen sehr stark auf der sozialen Schiene. Kinder manchen ohne Zuspruch nach fünfzehn Minuten meistens schlapp. Digitaler Unterricht muss entweder sozialen Zuspruch direkt bieten – was sehr schwierig ist – oder Eltern unterstützen, diesen Zuspruch zu geben. Eine weitere beispielhafte Herausforderung ist, dass Kinder nicht nur motorische, sondern auch soziale Energiebündel sind und die Schule den Rahmen für ihr Austoben setzen muss. Auch im Lockdown ist dies notwendig – möglichst mit Alternativen zu den beliebten Online-Ballerspielen. Doch für diese Art von Herausforderungen waren wir weder digital vorbereitet, noch haben wir sie digital passend adressiert, als es nötig gewesen wäre.

Die positiven Erfahrungen

Schauen wir noch genauer hin, dann sehen wir, dass der Super-wie-es-lief-Diskurs durchaus faktenbasiert ist. Es gab nämlich tatsächlich viele positive Entwicklungen. Viele Lehrerinnen und Lehrer setzten erstmals digitale Unterrichtsmittel ein und einige waren beim Einsatz digitaler Hilfsmittel sehr kreativ – und zwar sowohl digital erfahrene Lehrkräfte und Newcomer im digitalen Lehren. Diese Kreativität half nicht nur allen Betroffenen und Involvierten, sondern liefert neue Impulse für die Weiterentwicklung von e-Learning Werkzeugen. Darüber hinaus zeigt sich, dass die Krise uns geholfen hat, emotionale Widerstände gegen die Digitalisierung zu überwinden und daraus spannende Einfälle für zukünftige Innovationen resultieren. In den nächsten Monaten wird es darum entscheidend sein, dieses Vorwärtskommen zu verstetigen. Wir sollten digitale Unterrichtsformen weiter pflegen, die Erfahrungen damit erforschen und die Erkenntnisse aus dieser Forschung für die Gestaltung neuer e-Learning Tools nutzen.

Schauen wir uns breit um, so sehen wir auch gute Beispiele, wie Schulen und Institutionen kreative Ideen in der Gesundheitskrise entwickelten. Beispielsweise wurden mancherorts digitale Übersetzungsdienste genutzt, um mit den Eltern per SMS in deren Muttersprache zu kommunizieren. Dies kann man als ersten Schritt hin zu einer adressatengerechten digitalen Kommunikation mit den Eltern sehen. Freilich waren solche Good Practices eher lokale Initiativen als eine überall anzutreffende Selbstverständlichkeit. Umso wichtiger ist es, sie im Nachgang zum Lockdown zu identifizieren, zu analysieren und zu teilen.

Mut zur Wirklichkeitsnähe

All diese konkreten positiven Erfahrungen sollten uns motivieren, die Digitalisierung der Schule engagierter als in der Vergangenheit anzupacken. («Vieles ist möglich, ein bisschen etwas geht immer.») Wir sollten dies aber nicht im Gefühl des «Wir-waren-supergut» tun, weil dies in beide Richtungen respektlos ist – gegenüber jenen Eltern, die überfordert wurden als man ihnen alles vor die Füsse warf, wie auch gegenüber jenen Lehrkräften, welche sich sehr schwer taten mit der Umstellung und jetzt mehr Angst vor dem digitalen Fortschritt haben als zuvor.

Seien wir realistisch und gehen wir vom dem aus, was wir gesehen haben, damit wir wirksame Entwicklungen anstossen können. Die meisten digitalen Werkzeuge sind kompliziert zu bedienen, haben bug-artige Features und leisten sehr wenig für einen erfolgreichen digitalen Unterricht, solange Lehrkräfte sie sich nicht kreative aneignen und für ihre Zwecke konfigurieren. Zur Wirklichkeit gehört auch, dass man vielerorts vor der Krise kaum Erfahrung besass im Umgang mit den digitalen Werkzeugen und Techniksupport und professionelle Coaching-Angebote fehlten. Zudem fürchten politisch engagierte Lehrkräfte, dass durch die Nutzung der kostenlos angebotenen kommerziellen Software Schülerinnen und Schüler auf deren Nutzung im nachfolgenden Berufsleben konditioniert (und damit in ihren Augen verdorben) werden und dass die Software sie und ihre Schülerinnen und Schüler illegal ausspäht. Diese Ängste muss man ernst nehmen, im Dialog aufgreifen und die Folgen in den Erfahrungskontext der Digitalisierung wissenschaftlich fundiert einordnen.

Bemerkenswerter Weise scheint gerade die Veränderung der Schule in Richtung einer Anstalt des individuellen Coachings ein grosses Hindernis gewesen zu sein für den Umstieg auf das digitale Unterrichten an Schulen. Eine mögliche Erklärung ist, dass die Kosten für effektives Online-Coaching verglichen mit dem Offline-Coaching umso höher sind, je mehr konkrete Fertigkeiten vermittelt werden müssen. Viele handwerkliche Fähigkeiten, das Treffen von Design-Entscheidungen und künstlerische Praxis mit einer grossen emotionalen Komponente sind beispielsweise nur sehr schwer online vermittelbar und bräuchten wesentlich bessere Technologien – auch wenn viele überrascht waren, dass solch ein Unterricht überhaupt möglich ist.

Dazu kommt, dass man online die Schülerinnen und Schüler viel weniger gut im Blick behalten kann. Dies ist beim Adhoc-Coaching-Ansatz im virtuellen Klassenraum ein Problem – ausgenommen bei strukturierter Gruppenarbeit. Wie bei anderen beobachteten Problemen ist auch hier die Ursache: Wir Verstehen den Umgang mit Video-Interfaces zu wenig und müssen ihn besser erforschen. Digital-Analog-Mixes brachten beispielsweise hervorragende Resultate in Kunsthochschulen (z.B. Aufträge per Post und Aufgaben, Briefe zu schreiben, eingebettet in Unterricht per Videokonferenz), aber auf Schulebene stressten diese «coolen» Crossovers gewaltig.

Die grösste Herausforderung

Die elternfreundliche Kommunikation und Koordination war die grösste Herausforderung für die Schulen in der Gesundheitskrise. Oft wurde über viele Medien kommuniziert, jede Schule, jede Lehrerin und jeder Lehrer nach einem anderen Rhythmus, mit anderen Mitteln und über andere Kanäle – inklusive Kommunikation in Papier, die man abholen/abgeben musste. Auch innerhalb der gleichen Schulklasse wählten verschiedenen Lehrkräfte unterschiedliche Kommunikationskanäle, wovon manche obendrein nur sporadisch genutzt wurden oder unverbindlich waren. Dadurch wurden den Mehrkinderfamilien immense Lasten aufgebürdet. Manche Eltern verbrachten den Montagvormittag mit ordnen, Verstehen und Planen – nicht mitgerechnet das Füllen der Lücken in den Lehrmaterialien – sofern sie nicht mehrmals pro Woche planen mussten. Zwangsläufig ging dabei die Scherte zwischen ‚bildungsnahen’ und ‚bildungsfernen’ Familien weiter auf – schon ein freier Antrag für erweiterte Notfallbetreuung nach dem 11.Mai verlangte eine eloquente Begründung und hohe Kommunikationskompetenz.

Doch es gibt digitale Lösungskonzepte, um die Kommunikation zwischen Schulen und Eltern zu verbessern. Konkret können personalisierte Portale für Eltern die Kommunikation besser strukturieren und Eltern helfen, die wenig koordinierten Schulaktivitäten für die eigene Familiensituation besser zu ordnen, das Informationsmaterial für ihre Kinder zu kuratieren und ihre Erfahrungen und Probleme an die Lehrkräfte zurückzumelden. Darüber hinaus ist es möglich, mit digitalen Ereignisfiltern die Schulen zu befähigen, ihren Koordinationsgrad aus Sicht der betroffenen Familien zu evaluieren, strukturelle Probleme zu erkennen und ihren digitalen Unterricht in vielen Aspekten und koordiniert weiterzuentwickeln.

Unsichtbare Probleme

Vielleicht am besorgniserregendsten ist, dass mancherorts während des Lockdowns grosse Gruppen von Schülerinnen und Schülern gänzlich verloren gingen: Man hörte und sah von ihnen nichts mehr – teilweise gerade bei digital affinen Lehrkräften und ohne, dass dies irgendwelche Aktivitäten von Seiten der Schule auslöste. Einiges deutet deshalb darauf hin, dass die Bildungsgesellschaft Schweiz infolge des Lockdowns noch ungleichere Chancen bietet als davor. Das Aufschieben der Prüfungen (in einigen Kantonen) wird dies nur dann mildern, wenn es aktive Massnahmen zur Förderung der verloren gegangenen Schülerinnen und Schüler gibt. Aus Sicht der Forschung lautet deshalb die grundlegendste Frage: Können wir das Potential der digitalen Technologie zu nutzen, um Schülerinnen und Schüler aus bildungsfernen Familien mehr für das Lernen zu interessieren – oder zumindest ihre Perspektive und die ihrer Eltern in das Krisenmanagement einzubinden?

Zu den weniger erfreulichen Entwicklungen zählt auch, dass die Gesundheitskrise in vielen Familien wieder die alte Rollenverteilung gefördert hat. Zudem wird die Solidarität untergraben durch die Zweiklasseneinteilung in Mütter in den und Mütter ausserhalb der systemrelevanten Berufe. Letztere haben in Halbschulkantonen wie z.B. Zürich keinen Betreuungsanspruch für ihre Kinder.


Acknowledgements

Wesentlichen Anteil am Entstehen dieses Beitrags (inklusive der weiteren Teile) hatten Nada Endrissat, Thomas Gees, Martin Halter, Christoph Luchsinger, Tine Melzer, Thomas Jarchow – von Büren, Reinhard Starka und Anne-Careen Stoltze-Siebmann. Unser Dank gilt auch Alain Gut und den Kolleginnen und Kollegen in der der Bildungskommission von ICT-Switzerland, sowie Kolleg*innen von Parldigi, mit denen wir uns austauschen konnten. Angeregt wurde die Serie «Lehren aus der Covid19-Krise» durch Ingrid Kissling-Näf. Betreut wird sie von Anne-Careen Stoltze-Siebmann.


Teil 2: Grundlegende Betrachtungen erscheint am 12. Juni

Teil 3: Konkrete Empfehlungen erscheint am 19. Juni

Creative Commons Licence

AUTHOR: Reinhard Riedl

Prof. Dr. Reinhard Riedl ist Dozent am Institut Digital Technology Management der BFH Wirtschaft. Er engagiert sich in vielen Organisationen und ist u.a. Vizepräsident des Schweizer E-Government Symposium sowie Mitglied des Steuerungsausschuss von TA-Swiss. Zudem ist er u.a. Vorstandsmitglied von eJustice.ch, Praevenire - Verein zur Optimierung der solidarischen Gesundheitsversorgung (Österreich) und All-acad.com.

Create PDF

Ähnliche Beiträge

Es wurden leider keine ähnlichen Beiträge gefunden.

0 Kommentare

Dein Kommentar

An Diskussion beteiligen?
Hinterlasse uns Deinen Kommentar!

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert