Disruption ist (k)ein Märchen
Betrachtet man die digitale Transformation aus Sicht einzelner Sektoren oder spezifischer Fachdisziplinen, dann stellt man fest: In den meisten Fällen finden Veränderungen nur sehr langsam statt. Disruptiver Wandel ist fast gar nicht zu beobachten. Ist die disruptive Digitalisierung also ein Märchen?
Die zahllosen Wortmeldungen zum Thema sind eher dissonant. Viele reden von Disruption. Viele behaupten gegenteilig, alles bleibe beim Alten. Das allein wäre noch nicht dissonant. Doch innerhalb der Gruppe jener, die von Disruption reden gibt, sind viele Aussagen geprägt vom Unglauben an die Disruption. Das ergibt ein verstörendes Muster. Fragt man Digitalisierungsanhänger nämlich, was wirklich neu ist, bleiben meist die Beispiele aus. Bohrt man dann tiefer, so kommt man auf digitalferne Konzepte der Sozialwissenschaften und Rezepte der Beratungswirtschaft. Es klingt wie eine Musikaufführung, bei der der Dirigent eine andere Komposition dirigiert als die Musiker spielen – und das nicht bemerkt!
Einige wenige Evangelisten des disruptiven Wandels adressieren immerhin tatsächlich eines der neuen Geschäftsmodell: Business Ecosystems. Doch auch sie verschweigen meist die wesentlichen Charakteristika und Erfolgsfaktoren dieser neuen Geschäftsmodelle. Die vielen anderen neuen digitalen Geschäftsmodelle und Praktiken, vor allem die mathematikaffinen und die kulturaffinen, werden freilich noch seltener angesprochen. Nimmt man sie in den Mund, wird man verständnislos angestarrt. Was will der Spinner mit «digitalen Zwillingen» oder «digitaler Kuratierung»???
Umgekehrt hört man auch bei jenen, welche von der Nicht-Disruption sprechen, viele dissonante Argumente. Da gibt es die clusterähnlichen Schnellfeuerwerke wissenschaftlichen Aufzählens von von Transformationsformen, aber auch die Querdenker-Geschichten, welche dem Prinzip «Alles soll bleiben wie es ist, darum muss sich (fast) alles ändern.» folgen. Ich selbst setze seit Jahren dieses Motto vor viele meiner Vorträge, weil ich Paradoxien mag. Daneben schreibe ich gelegentlich über Praktiken wie die De-Digitalisierung und freue mich, wenn Kolleginnen an funkigen Orten das Aufgreifen. Ab und zu Trends zu setzen macht einfach Spass. Und ich hoffe dabei, dass es als genau das verstanden wird: Spass mit einem Körnchen Ernst.
Das alles ist, zugegeben, nur verspielt dissonant. Viel irritierender, weil emotional aus der Mitte, klingen die Zurück-zur-Natur Aufrufe bei Diskussionen über die digitale Zukunft. Besonders wenn beispielsweise Thesen wie jene in den Raum gestellt werden, dass die Digital Natives mehr Empathie lernen müssten. Dieser implizite Vorwurf ist weder richtig, noch falsch, sondern Ausdruck eines kulturellen Unverständnisses. Denn die emotionale Intelligenz der Digital Natives funktioniert anders als jene der Babyboomer. Das hat freilich nur sehr indirekt mit digital Transformation zu tun. Es wäre als Thema deshalb am besten in einem philosophischen Quartett im Spätfernsehen aufgehoben.
Mein Fazit all dieser Widersprüche und Dissonanzen ist: Der Unglaube an die digitale Transformation ist weit verbreitet und stark. Ein sehr starker Unglaube! Viele meinen, dass nun endlich durch die Digitalisierung gezeigt werde, wie recht sie haben.
Kommen wir darum zum Ausgangspunkt dieser Kolumne zurück: In den meisten Kontexten finden digital verursachte Veränderungen nur sehr langsam statt. Aus dieser richtigen Beobachtung werden leicht die falschen Schlüsse gezogen. Nimmt man nämlich zuerst die Summe über alle Kontexte (Marktsektoren, Fachdisziplinen) und davon die Summe über die Jahre, so bleibt vermeintlich null übrig. Nimmt man hingegen in jedem Kontext (Marktsektor, Fachdisziplin) zuerst Summe über die Jahre und bildet davon die Summe über die Kontexte, so ergibt sich ein völlig anderes Bild, nämlich ein reissender Strom der Veränderung, der sein Flussbett dauernd umgräbt.
Dieses Phänomen ist keine Aufhebung der Integrationsregeln (Mathematiker nennen das Summenbilden häufig Integrieren), sondern Ausdruck der Tatsache, dass der Mensch sich schwer tut mit dem Integrieren von Beobachtungen. In der Mathematik brauchte es 2000 Jahre, bis das gelang. Ohne Mathematik geht es vermutlich gar nicht in unsere Köpfe hinein. Und die Ökonomie hat bislang nicht geschafft, es formal zu modellieren.
Trotzdem gibt es wenig Zweifel daran, dass die digitale Disruption nicht nur Realität, sondern auch Wirklichkeit ist. Wir können durch digitale Transformation die Effizienz so stark steigern, dass sich Unternehmen und Märkte von Grund auf verändern. Wir können Business völlig anders machen als früher und damit die Logik der Märkte ändern. Und wir können in den diversen Coffin Corners der Wirtschaft Unternehmen dauerhaft platzieren mit vorläufig schwer absehbaren Folgen. Für grosse Unternehmen – wie in Zukunft vermutlich auch für KMUs – heisst dies, dass das Management kontrolliert schizophren handeln muss. Früher nannte man das: «Widersprüche aushalten können».
Digitale Disruption muss freilich weder hier und jetzt (hic et nunc) umgesetzt werden, noch benötigt sie die Kriegsmaschinerie des Change Managements. Fokussierte, zugleich gut vorbereitete und agil durchgeführte Projekte genügen. Kreativität und Disziplin reichen völlig aus. Ruhe und Gelassenheit helfen sogar stark, wenn sie mit einem Sinn für Dringlichkeiten einher gehen. Der ideale Zeithorizont sind 10 – 15 Jahre. Bestehende Unternehmen, welche alles daransetzen, in 15 Jahren noch zu existieren, handeln unternehmerisch nachhaltig und haben gute Chancen, ihr Ziel zu erreichen. Start-ups welche darauf abzielen, in 15 Jahren extrem profitabel zu sein, nutzen ihre Chancen am besten. In beiden Fällen entscheidet, was man heute für die Zeit nach den nächsten 10 Jahren anstrebt.
Wer kurzfristiger denkt, hat wenig Chancen, Bleibendes zu schaffen. Wer langfristiger denkt, muss dafür die Steuerzahler oder Philanthropen zur Kasse bitten und riskiert, es sich in der Fremdfinanzierung gemütlich einzurichten. Wer hingegen mit einem Zeithorizont von 10 bis 15 Jahren agiert, der kann digitale Disruption – mit Kreativität plus Disziplin plus dem notwendigen Quäntchen Fortune – tatsächlich realisieren. Sie ist kein Märchen. Oder präziser: Sie ist ein Märchen, das von grundsätzlichen Erfahrungen erzählt, die zur Digitalisierung dazu gehören.
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