Mädchen spielend für Coding begeistern

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Die Zahlen ändern sich von Jahr zu Jahr – aber der Frauenanteil in der Informatik bleibt in jedem Jahr im Keller. Und der in der Informatikausbildung bewegt sich gar noch darunter: 14.5% der IKT-Fachkräfte in der Schweiz waren 2018 Frauen und bei den IKT-Diplomen gingen 11% an Frauen. Allgemeine Tendenz: sinkend, ähnlich wie in grossen Teilen der westlichen Welt. Und das trotz aller Werbemassnahmen bei Mädchen.

Da die Schweiz ein attraktiver Lebens- und Arbeitsort ist, stellt der Frauenmangel für die Schweizer IKT-Wirtschaft kein wirkliches Problem dar. Die fehlenden Frauen können recht einfach durch den Import von Fachkräften ersetzt werden. Letzteres verhindert zudem ein Lohnwachstum infolge von Knappheit, weil die importierten Fachkräfte aus Märkten mit geringeren Löhnen kommen. Abgesehen davon ist der grundsätzliche Mangel an wirklichen guten IKT-Fachkräften nur durch Weiterqualifikation im Beruf behebbar. Ausländerinnen und Ausländer mit Berufserfahrungen zu importieren, spart hier Schweizer Wirtschaft Weiterbildungskosten.

Der Nebeneffekt: Die Dominanz der Männer prägt die IKT-Kultur in der Schweiz. Die Fokussierung auf schlaue Argumente anstelle von systematischen Analysen, das Spielen von Machtspielchen als Selbstzweck, die Fokussierung auf Formalitäten anstelle des ganzheitlichen Blicks, die Priorisierung der Technik über die Nutzerbedürfnisse, die an manchen Orten zu häufigen Aggressionen, das alles ist Teil des Preises, den wir für die Männerdominanz bezahlen. Die interessante Frage ist deshalb: Liegt es in der Natur von Informations- und Kommunikationstechnologien, dass sie für Mädchen weniger interessanter ist als für Buben?

Aufmerksame Leserinnen und Leser werden vermutlich bemerkt haben, dass ich das Kürzel IKT statt des Kürzels IT verwende, also von Informations- und Kommunikationstechnologien spreche. Das ist nicht ganz frei von Absicht. Zu den sozialen Klischees zählt, Frauen seien neugieriger und kommunikativer als Männer. Zwei von drei Buchstaben in IKT sind also den Mädchen zuzuschreiben. Warum ist dann das Verhältnis in der wirklichen Ausbildung nur 1:8?

Sind es gesellschaftliche Vorurteile? Wir wissen es nicht. Es gibt viel anekdotische Evidenz, dass Computer ein Bubending sind. Und es gibt kein Experiment, dass kulturelle Prägung ausschliessen könnte. Der Mensch ist ein Kulturwesen. Seine biologische Veranlagung in Bezug auf Soziales ist nicht messbar. Wir haben nur ganz wenig Hinweise auf das Angeborene. Und selbst diese sind nicht die letzte Antwort, denn wir wissen, dass soziale Verhältnisse das Erbgut verändern können. Über die Natur der unterschiedlichen Technik-Affinität von Buben und Mädchen kann man deshalb nur spekulieren.

Ich möchte darum das eine Vorurteil ins Zentrum der Überlegungen stellen, welches für mich die überzeugendste Begründung hat. Es lautet «Man muss schon wirklich an der Sache interessiert sein, um darin gut zu sein.» Ich habe in einer Community meine Studentenjahre verbracht, in der dies ein Dogma war. Es war eine ziemlich typische Community innerhalb der Mathematik- und Physikstudierenden, die es damals an meiner Heimuniversität gab. Ihre Mitglieder unterschieden sich dadurch von den anderen, dass sie verstehen wollten, was ihr jeweiliges Fach ausmacht. In meiner Disziplin, der Mathematik, haben wir oft darüber gesprochen, was einen zu einem guten Mathematiker, respektive zu einer guten Mathematikerin, macht. Und wir waren uns einig, dass Mathematik ohne Beweise nichts ist. Als eine Kollegin einmal bemerkte, sie interessiere sich nur für den Satz, nicht für den Beweis, da war unser vernichtendes Urteil gefällt: Sie ist keine von uns.

In den Wissenschaften – zu denen die Mathematik nicht zählt – gibt es keine Beweise. Aber das Vorurteil, dass man schon wirklich am eigentlichen Wesen einer Sache interessiert sein muss, um wertvolle Leistungen zu erbringen, das gilt fast überall. In der Informatik nimmt es die Form an, dass man mit IT-Innovationen spielen wollen muss, dass man Freude am Ausprobieren und konkret auch am Coden haben muss. Bindestrich-Informatik sind nur Anwender*innen und gelten deshalb als nicht satisfaktionsfähig, ausser sie sind auch kreative Coder*innen und damit richtige Informatiker*innen.

Hier wird es nun interessant, in ganz vielerlei Hinsicht – aber auch in Bezug auf die Gender-Thematik. Was ist Informatik? Ist Informatik mehr Mathematik oder mehr Kunst, so lautet eine der Streitfragen. Warren Sack hat zu diesem Diskurs mit seinem Buch «The Software Arts» wesentlich beigetragen. Ich arbeite an Aspekten dieser Frage gerade mit einer Künstlerin und Sprachphilosophin, möchte ich mich aber auf zwei Abgrenzungen beschränken, die viel erhellen.

Informatik grenzt sich einerseits von der Technik nicht nur dadurch ab, dass sie Fehler für das Natürlichste der Welt erachtet – was, nebenbei gesagt, im Ruf steht, Frauen abzutörnen. Informatik grenzt sich auch durch die Freude am Spielen ab. Wo andere Ingenieur*innen Lösungen basteln, spielen Informatiker*innen meist mit den Werkzeugen dafür. Selbst Technik-Manager*innen mit Technik-Ausbildung verstehen das oft nicht.

Das Spielen in der Informatik dient dem Lernen, aber es ist oft zweckfrei und kindlich: ein Erforschen der Möglichkeiten neuer Technologien. Das macht es sympathisch. Das verursacht viele Konflikte mit den Führungskräften. Und das definiert geradezu die Geringschätzung gegenüber den Bindestrich-Disziplinen: Diese spielen zu wenig!

Informatik grenzt sich andererseits von der Mathematik dadurch ab, dass sie Lösungen implementiert, statt sie nur zu konzipieren und zu verstehen. In der Coding-Praxis gilt das Selbsterfinden eines Algorithmus sogar als Anti-Pattern, das heisst als von den Göttern unter Strafe gestellt – und zwar so lange bis der letzte Rest von Nachfolgesoftware für immer entsorgt ist. Der Grund ist simpel: Die wenigsten Informatiker*innen können gute Algorithmen designen, sie designen die Anwendung von Algorithmen.

Einige Mathematiker – ich kenne keine Frauen darunter – sind empört, weil trotz gefühlten 15 Jahren Forschungsrückstand die Informatik umwerfenden Applaus für den schlampigen Abklatsch mathematischer Erkenntnisse bekommt. Umgekehrt halten Informatiker*innen Theorien, die keine Lösungen implementieren, für wertlos.

Die Abgrenzungen sind also mit gegenseitigen Ablehnungen verbunden, welche zum Teil sehr tief gehen. Sie gelten zwar nicht für alle Teile der Informatik, aber sie sind so präsent, dass es ein Wunder wäre, wenn viele Mädchen sich für Informatik interessieren würden. Denn das sogenannte gesunde Volksempfinden billigt Spielen als Selbstzweck nur Buben zu – und auch dann meist nur, wenn das Spielzeug etwas Rechtes ist, beispielsweise ein technisches Werkzeug.

Wer mehr weibliche IKT-Fachkräfte haben will, muss attraktive Spielmöglichkeiten für zweckfreies Spielen mit IT-Werkzeugen für Mädchen schaffen. Zusätzlich ist es wichtig, das Spielen mit diesen Möglichkeiten zum mädchentypischen Verhalten zu erklären. So lange in den Köpfen die Überzeugung verankert ist, dass Buben mit Technik-Werkzeugen spielen und Mädchen mit der Simulation von Sozialverhalten, wird alles andere weitgehend vergeblich sein.

Kann man nicht alternativ die IT-Kultur ändern? Ja, was Machtspiele betrifft, nein was das Spielen mit IT-Werkzeugen betrifft.  Kann man nicht alternativ die Ausbildungen ändern? Ja, an Universitäten, wo man Vorkenntnisse irrelevant machen kann, nein an Schweizer Fachhochschulen, an denen praktische Berufserfahrungen Vorbedingung sind. Analoges gilt für andere Fragen nach möglichen Alternativen.

Natürlich ist das Wesen der Informatik nicht notwendigerweise etwas Dauerhaftes, wie auch das Wesen anderer Disziplinen nicht dauerhaft ist. Seit meinem Studium hat sich beispielsweise die Mathematik substanziell verändert. Heutige Absolvent*innen können ganz anderes als wir damals lernten. Sie fällen dementsprechend andere Werturteile. In der Folge werden in Zukunft andere Menschen Mathematik studieren als früher. Solch ein Wandel wird eventuell auch in der Informatik passieren. Aber wir können diesen Wandel nicht dadurch hervorbringen, dass wir behaupten, die Informatik sei eine soziale Disziplin. Wenn wir mehr Mädchen für IKT-Fachberufe interessieren wollen, müssen wir bei ihnen für das Wesen der Informatik Werbung machen, nicht für Nebenaspekte.


Referenzen

  1. Warren Sack: The Software Arts, MIT Press, 2019
  2. Kommission Bildung von ICT Switzerland: Positionspapier Für die digitale Zukunft – Mehr Frauen in die Informatik! 2020
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AUTHOR: Reinhard Riedl

Prof. Dr. Reinhard Riedl ist Dozent am Institut Digital Technology Management der BFH Wirtschaft. Er engagiert sich in vielen Organisationen und ist u.a. Vizepräsident des Schweizer E-Government Symposium sowie Mitglied des Steuerungsausschuss von TA-Swiss. Zudem ist er u.a. Vorstandsmitglied von eJustice.ch, Praevenire - Verein zur Optimierung der solidarischen Gesundheitsversorgung (Österreich) und All-acad.com.

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