Mensch und Technik

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Die spezielle Natur der Beziehung zwischen Mensch und Technik prägt die digitale Transformation. Sie spielt nicht nur auf individueller, sondern auch auf gesellschaftlicher Ebene. Wie auch bei anderen Beziehungen wird der Partner teilweise durch die Eigendynamik seines Umfelds gelenkt.

Viele Entscheider und Ingenieure manchen den Fehler, die Technik ohne den Menschen zu denken. Viele Technik-Kritiker machen umgekehrt den Fehler, den Menschen ohne Technik zu denken. Beides führt zu Fehlschlüssen.

So weit, so offensichtlich. Wenn man sich nicht grundsätzlich der Wirklichkeit verweigert, so ist es einfach zu verstehen, dass Nutzer*innen Technik anders nutzen als geplant und dass diese «Deviation» zwei konträre Folgen hat: kurzfristig und situationsbezogen wird das angestrebte Innovationspotential der Technologie nicht erreicht, während es langfristig und kontextübergreifend meist übertroffen wird. Menschen mögen aus Ingenieurssicht Technik falsch nutzen oder die Nutzung von Technologie ganz verweigern, sie finden aber auch kreativ neue Wege Technik für Dinge zu nutzen, für die sie gar nicht entwickelt wurde. Das ist nicht nur logisch, sondern findet auch in der Praxis oft so statt.

Für die Nicht-Akzeptanz von Technologie gibt es sehr viele Beispiele: von den Kollaborations- und Wissensmanagementwerkzeugen, die in vielen Büros unbenutzt blieben und bleiben, bis zur datenbasierten personalisierten Medizin, gegen die präventiv mit Warnungen vor Datenmissbrauch zu Felde gezogen wird. Letzteres bedeutet, dass viele Patient*innen eine schlechte einer datenbasierten Therapie vorziehen.

Aber es gibt eben auch die umgekehrte Seite: Sie kennen wahrscheinlich den Witz vom Technik-Professor, der freudig aus dem Labor stürzt und enthusiastisch ausruft: «Ich habe die Lösung! Wo ist das Problem?» Viele Akademiker*innen lachen dann schuldbewusst über den weltfremden Professor, aber das eigentlich Lustige am Witz ist: Genau so funktioniert Fortschritt. Die USA führt das immer wieder vor: Ihre staatlich finanzierte Forschung, welche oft auch Auftragsforschung der Regierung ist (vergleichbar mit der Ressortforschung in der Schweiz, aber mit etwas anderer Zielorientierung), führt zu Erfindungen, aus denen Unternehmen dann disruptive Produktinnovationen machen. iPhone docet, exempla obscurant.

Man könnte dieses Phänomen anthropologisch so beschreiben: wir haben uns vom Stadium der individuellen Aneignung neuer Technologien zum Stadium der unternehmerischen Aneignung neuer Technologie weiterentwickelt. Wobei individuelle Praktiken, die schnell breite soziale Akzeptanz finden, nach wie vor eine grosse Rolle spielen, Stichwort: Influencer.

All dies ist oft beschrieben worden. Wer der Wissenschaft zuhören will, wird viele spannende Aspekte erkennen. Darum zurück zum Ausgangsthema: Menschen und Technik gehören zusammen: sie ohne das jeweilige Gegenstück zu denken, ist Unfug. Das ist offensichtlich und zeigt sich auch an grausigen Beispielen. Eine weit verbreitete Form menschlicher Entwürdigung besteht beispielsweise darin, Menschen Aufgaben mit falschen, ungeeigneten (analogen) Werkzeugen ausführen zu lassen. Doch trotz der engen Beziehung zwischen dem Menschen und seinen Werkzeugen, welche die digitale Transformation wesentlich prägt, ist die Reduktion der Technologienutzung auf diese Beziehung oft nicht geeignet, Transformationsphänomene in ihrer ganzen Wirkungsbreite und Tragweite zu verstehen.

Ich erlaube mir dies am Beispiel eines Vordenkers der Digitalisierung zu tun, den ich persönlich sehr schätze und dem das moderne Verwaltungswesen viel verdankt: Klaus Lenk hat angeregt, Mensch-Maschine-Tandems in der Verwaltungswissenschaft zu betrachten. Das führt zu einem fundierteren Verständnis des E-Government. Und es würde noch mehr Nutzen bringen, wenn es zu ethnografischer Forschung Anlass gäbe statt nur zur philosophischen Reflexion. Insbesondere würde man dann erkennen, dass es einen Konflikt zwischen Tandem-Logik und geteilten Applikationen gibt – ein Konflikt, der zu unsinnigem bis missbräuchlichem Design führt, beispielsweise wenn Wissensmanagement-Werkzeuge zum Kontrollieren der Mitarbeitenden missbraucht werden sollen. Das zeigt: das Mensch-Maschine Tandem ist nur ein Aspekt der Wirklichkeit. Um diese zu verstehen, müssen wir mehr kognitive Artefakte einführen.

Konkret ist es sinnvoll, im Sinne der aktuell populären Form von STS (Science and Technology Studies), Technologien als solche auf ihrem Weg durch die Branchen zu verfolgen. Das heisst: sich gedanklich auf die Technologie zu setzen und ihren Weg durch die Wirtschaftssektoren und Fachdisziplinen zu verfolgen. Dies ist zuallererst deshalb nützlich, weil Digitalisierung als Durchdringen von Wirtschaft und Gesellschaft auf zwei Ebenen stattfindet, der operativ-faktischen und der narrativen. Dabei findet gerade das narrative Durchdringen transversal statt und entfaltet so eine besonders grosse ökonomische Wirkung. Will man den Dingen tiefer auf den Grund gehen und sich auf komplexere Wechselwirkungen einlassen, erweist sich das «Reiten auf der Technologie» (wie dies in STS derzeit populär ist) allerdings als noch produktiver als zuerst gedacht: Wir können nämlich die Wirkung der Anwendungskontexte auf die Technologie selber beobachten, ebenso wie die Spannung zwischen langfristigen Technologietrends und den Auswirkungen der praktischen Technologienutzung.

Umgekehrt ist auch die Erforschung kulturellen Entwicklungen und kognitiver Veränderungen des Menschen im wandelnden Umfeld fortschreitender Technologisierung äusserst wertvoll, weil es unseren Blick auf Veränderungen lenkt, für die Technologie nur ein nicht-deterministischer Auslöser ist. Diese Veränderungen auf ihre Korrelation mit dem Technologiefortschritt zu reduzieren (d.h. ohne kulturellen Wandel zu betrachten), kann zu vielerlei Fehlschlüssen führen. Denn mit Verhaltungsänderungen, die mit Technik zu tun haben, ist es bisweilen wie mit Suchtkrankheiten: die konkrete Sucht ist oft Zufall und sagt wenig über die eigentliche Ausprägung der Krankheit aus. Auch bei der Gewalt im Netz können die besonderen Möglichkeiten für anonymes Handeln den Blick auf das eigentliche gesellschaftliche Problem mehr verstellen als erhellen.

Selbst dort, wo Kulturveränderungen ohne Technologiefortschritt unwahrscheinlich erscheinen, ist es wichtig, das soziale Phänomen gesamtgesellschaftlich zu sehen. Die wachsende Ichbezogenheit mag etwas mit Filterblasen und Selbstdarstellungspraktiken in digitalen sozialen Medien zu tun haben, sie lässt sich aber auch in jenen Bereichen der Literatur beobachten, die den modernen Technologien sehr kritisch gegenüberstehen. Und die sehr überschaubare Kreativität der heutigen Popmusik hat eventuell sehr wenig mit digitalen Kompositionswerkzeugen und Tonstudios zu tun. Technologie erklärt nicht alles, was uns irritiert.

Daraus folgt, dass das Zusammendenken von Mensch und Technik noch viel weiter gehen sollte als die Betrachtung der Mensch-Maschine Beziehung. Wir müssen beide Seiten betrachten, ebenso wie ihre «Aneignungspraktiken» der jeweils anderen Seite. Technik gehört zur Wissenschaft vom Menschen und hat ihr Eigenleben, indem Faktisches und menschliche Entwicklungspraktiken wechselwirken.

Als ehemaliger Mathematiker erlaube ich mir, einige lebenspraktische Korollare anzufügen. (Korollare werden dort gern eingesetzt, um die eigentlichen wichtigen Folgerungen nebenbei zu erwähnen.)

  1. Seien Sie vorsichtig beim Digital Detox, es könnte ähnlich fatal wirken wie fast alle Diäten. Wenn sie sich entdigitalisieren wollen, weil die Digitalisierung für sie unerfreuliche Folgen hat, dann tun Sie das lieber mit Technologie als ohne. Nur bei ernsthafter Abhängigkeit ist ein Totalentzug notwendig und sinnvoll.
  2. Falls Sie Digitalisierungsprojekte verantworten, verabschieden Sie sich vom Mythos, dass die Technologie nie das Problem ist. Das ist nicht nur empirisch falsch, sondern geradezu unmenschlich.
  3. Beschränken Sie sich bei der Digitalisierung nicht nur auf die Sache, beziehungsweise das Ziel. Versuchen Sie auch nicht, durch externe Anreize die Menschen wider ihre Natur zu steuern. Nutzen Sie stattdessen intrinsische Motivation, fördern sie die Aneignung der technischen Lösung und verbreiten Sie ansteckende, direkt übertragbare Narrative, die Technologienutzung in einen positiven, menschlichen Kontext stellen.
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AUTHOR: Reinhard Riedl

Prof. Dr. Reinhard Riedl ist Dozent am Institut Digital Technology Management der BFH Wirtschaft. Er engagiert sich in vielen Organisationen und ist u.a. Vizepräsident des Schweizer E-Government Symposium sowie Mitglied des Steuerungsausschuss von TA-Swiss. Zudem ist er u.a. Vorstandsmitglied von eJustice.ch, Praevenire - Verein zur Optimierung der solidarischen Gesundheitsversorgung (Österreich) und All-acad.com.

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