«Der Public Sector braucht mehr Dialog und weniger Gärtlidenken»

Damit der Public Sector in der Schweiz digital richtig durchstarten kann, brauche es einen Kulturwandel, bei dem alle Beteiligten das oft noch vorherrschende «Gärtlidenken» überwinden müssten. Besonders Bund, Kantone und Gemeinden sollten sich über ihre Grenzen hinaus stärker vernetzen, sagt E-Government-Experte Alain Gut, Director Public Affairs bei IBM Schweiz.

Wie hat sich aus Ihrer Sicht der Public Sector in den vergangenen fünf Jahren aus Sicht der Wirtschaft transformiert? Sind Sie zufrieden mit der heutigen Maturität?

Der Public Sector hat sich in den letzten fünf Jahren zwar technologisch verbessert, jedoch nur sehr langsam. Es braucht nach wie vor sehr viel Zeit, dass man sich mit neuen Technologien und deren möglichen Einflüssen befasst und dann auch entsprechende Projekte auslöst. Ein Massstab im öffentlichen Sektor sind nach wie vor die Fortschritte im eGovernment und da werden in der Schweiz nicht wirklich grosse Erfolge erzielt. Wobei wir im Vergleich mit anderen Ländern nicht unbedingt schlechter werden, sondern die anderen besser. In diesem Sinne kann man mit der Maturität auch nicht zufrieden sein. Wir sind mit wichtigen Basisdienstleistungen wie beispielsweise einer funktionierenden und weit verbreiteten E-ID Jahre im Rückstand. Obwohl wir (noch immer) als ein innovatives Land gelten, tut man sich im Public Sector schwer, neue Entwicklungen anzunehmen und auch umzusetzen. Politische Rahmenbedingungen und auch unser ausgeprägt föderales System helfen hier auch nicht, für etwas mehr Flexibilität und manchmal auch Geschwindigkeit zu sorgen.

Wenn wir von Transformation reden: Wohin soll sich der Public Sector bewegen? Was sind die Erwartungen der Wirtschaft?

Ein sicherlich grosses Hemmnis für Transformation ist das Beschaffungsrecht, das sowohl der Verwaltung wie auch den Anbietern sehr enge Fesseln anlegt. Auch führt dies dazu, dass grössere Projekte sehr lange dauern und wenn umgesetzt, oft schon wieder «renovationsbedürftig» sind. Mit mehr Dialog (dies sieht das alte wie auch das neue Beschaffungsgesetz vor) könnten sicherlich bessere und innovativere Lösungen gefunden werden. Zudem ist es absolut essentiell, dass sich im Public Sector auch ein kultureller Wandel durchsetzt. Mit den heutigen und zukünftigen technologischen Möglichkeiten und der Notwendigkeit von durchgängigen End-to-end-Prozessen muss das «Gärtlidenken» von Departementen, Direktionen, Abteilungen und Ämtern der Vergangenheit angehören. Dafür braucht es den politischen Willen und das nötige technologische Verständnis der Exekutive und eine Verwaltung, die als eine Einheit ihren Kunden, den Bürgern und den Unternehmen, moderne und einfache Interaktionen rund um die Uhr ermöglicht.

Wie kommt es zu Innovation im Public Sector?

Das ist eine Frage, die mich beschäftigt, seit ich mit dem Public Sector zu tun habe und das sind nun doch schon einige Jahre. Was sind die Merkmale einer innovativen Kultur? Dazu gehören sicherlich Kreativität, Vertrauen in die Mitarbeiter und das Zulassen von Fehlern – das heisst, man muss bereit sein, auch Risiken einzugehen – und ein ausgeprägtes und transparentes Kommunikationsverhalten. Es ist sicherlich nicht vermessen zu behaupten, dass dies nicht die ausgeprägten Verhaltensmerkmale einer Verwaltung sind. Zudem lässt es auch das Beschaffungsrecht fast nicht zu, dass der Public Sector zusammen mit Anbietern Pilotprojekte oder Tests durchführt. Einerseits will die Verwaltung, wenn möglich, dafür Ausschreibungen verhindern und andererseits wollen sich Anbieter keiner Vorbefassung aussetzen und Knowhow einbringen, ohne auf einen entsprechenden Auftrag zählen zu können. Innovation braucht also ein entsprechendes kulturelles Umfeld und Rahmenbedingungen, die innovative Ideen zulassen. Die OECD hat dazu ein Framework entwickelt, das die Problematik sehr gut zusammenfasst: People, Knowledge, Ways of working, Rules and processes.

Der Bundesrat hat am 20. November 2019 die E-Government-Strategie Schweiz 2020-2023 verabschiedet. Die verbindliche Regelung der Zusammenarbeit zwischen Bund, Kantonen und Gemeinden wird darin grossgeschrieben. In diesem Zusammenhang ist dem Schlussbericht des Projektes «Digitale Verwaltung» des EFD und der KdK, der Ende Oktober veröffentlicht wurde, von drei Varianten die Rede, wonach die dritte Variante die Gründung einer Behörde ist, v.a. für transversale Belange zuständig sein soll. Was halten Sie von den vorgeschlagenen Modellen?

Es ist erfreulich, dass auf allen Ebenen erkannt wurde, dass es im Bereich des eGovernments und der digitalen Verwaltung einer Strategieänderung bedarf, um die technologischen Herausforderungen meistern zu können. Die vorgeschlagenen Modelle sind ein typisch schweizerischer Kompromiss. Eigentlich wollen alle die beste, dritte Variante, sind sich aber bewusst, dass in unserem föderalen System die notwendigen (gesetzlichen) Rahmenbedingungen dies (fast) unmöglich machen und sehr viel Zeit benötigen. Der Druck auf eine gesamtschweizerisch koordinierte Lösung ist wahrscheinlich auch zu gering, dafür funktioniert unser Verwaltungsapparat immer noch zu gut. Ein vergleichbares Projekt haben auch die Polizeien mit HPi (Harmonisierung der Schweizer Polizeiinformatik). Nach acht Jahren sind die erzielten Ergebnisse überschaubar und es mussten viele Hürden organisatorischer, rechtlicher und projektbedingter Art überwunden werden.

Im Projekt «Digitale Verwaltung» geht es um Steuerung und Zusammenarbeit. Sollen wir weitere Aspekte auf die Agenda dringend setzen?

Das Projekt «Digitale Verwaltung» deckt die wichtigsten Bereiche wie Strategie, Standards, Innovation, Dienstleistungen und Vernetzung sehr gut ab. Wie immer liegt es auch hier nicht an der Strategie selbst, sondern wie die Strategie umgesetzt werden kann. Grundsätzlich ist es nachvollziehbar, dass sich der Bund, die Kantone und die Gemeinden in der Verantwortung sehen. Das ist sicherlich auch richtig so. Wünschenswert wäre, wenn mehr Kooperation mit der Wirtschaft und der Wissenschaft stattfinden würde. Ob dies in Form von PPPs (Public Private Partnerships) oder in Arbeitsgruppen stattfindet, ist nebensächlich. Wichtig ist der Austausch von Ideen und Möglichkeiten, das Miteinander, um die besten Lösungen zu finden und die breite Verankerung von Ergebnissen auf allen staatlichen Ebenen, vor allem auch bei der Bevölkerung.

Wir haben in den letzten Jahren viel in Projekte und Services investiert. Brüssel verteilt uns schlechte Noten, weil wir im internationalen Vergleich im Bereich Basisdienste im Rückstand sind (vgl. EU-Benchmark 2019). Welche Basisdienste sollten priorisiert werden? Was ist konkret vorgesehen? Wo sehen Sie die Herausforderungen?

Zu priorisieren sind sicherlich die Elektronische Identität, die digitale Post (elektronischer Versand von Dokumenten und Informationen zwischen Staat und Bevölkerung/Unternehmen), eDokumente (Dokumente können sicher herunter- und heraufgeladen werden) sowie authentische Quellen (Behörden füllen Formulare mit bekannten Daten im Voraus aus). Grundlage von allem ist aber die Elektronische Identität. Sie ist an sich Voraussetzung für alle behördlichen Prozesse. Die neue E-Government-Strategie der Schweiz sieht entsprechende Massnahmen im Bereich der Basisdienste und Infrastruktur vor. Standards und Schnittstellen müssen dafür geschaffen werden. Ohne diese sind Identitäts-, Zugriffs- und Datenverwaltung kaum umsetzbar. Bund, Kantone und Gemeinden sind hier gefordert. Dabei ist aber immer zu beachten, dass die Schweiz sich nicht auf einer Insel befindet. Die Schnittstellen müssen auch den elektronischen Austausch mit anderen Ländern, vor allem aus der EU, ermöglichen.

Gegen die E-ID-Gesetzesvorlage wird voraussichtlich ein Referendum ergriffen. Die Gegner der Vorlage sind der Meinung, dass der Identitätsnachweis eine hoheitliche Aufgabe ist, die nicht der Wirtschaft überlassen werden kann. Geht es hier im Grunde um eine Frage des Vertrauens oder eher um die Rolle des Staates im digitalen Zeitalter?

Es geht um Beides. Der Staat muss an sich in der Lage sein, eine Elektronische Identität anzubieten. Warum er dies im Rahmen des neuen E-ID Gesetzes nicht tun will, ist eine Sache für sich. Vorgesehen ist ja, dass der Staat die Identität prüft, die Lösung selbst von Dritten erbracht wird. Ob durch eine allfällige Volksabstimmung der Staat dazu gezwungen werden kann, das werden wir sehen. Auch ist dies nicht eine optimale Ausgangslage und würde die Einführung der elektronischen Identität um Jahre verzögern. Wichtiger als wer sie herausgibt ist, dass die Lösung die notwendige «blindness» erfüllt, das heisst, dass niemand – auch nicht der Herausgeber der E-ID – sehen kann, wer mit wem eine Transaktion ausgeführt hat. Das ist die Voraussetzung für das Vertrauen in die Elektronische Identität. Die Rolle des Staates im digitalen Zeitalter ist eine spannende und noch ungeklärte Frage und wird einen intensiven Dialog zwischen Staat, Bevölkerung, Unternehmen und vor allem auch der Politik bedingen.

An einer Podiumsdiskussion der Netzwerkveranstaltung 2019 «Digitale Verwaltung zum Nutzen Aller» hat Michel Huissoud, Direktor der Eidg. Finanzkontrolle, das Ergreifen einer Verfassungsinitiative vorgeschlagen, um die Verwaltung der Basisregister neu zu gestalten. Wäre dies der richtige Ansatz, um den öffentlichen Diskurs zum Thema Datenpolitik zu lancieren?

Eine Verfassungsinitiative wäre sicherlich eine Möglichkeit, eine breite Diskussion zum Thema Datenpolitik zu starten. Es gibt jedoch bereits einige Bestrebungen, den Umgang mit Daten zu sensibilisieren und auf das politische Parkett zu bringen. Open Government Data, Data Governance, Datenportabilität und Swiss Data Space sind nur einige der Begriffe, die im Rahmen einer Datenpolitik von Relevanz sind. Für Europa hat IBM eine solche Vision für bis ins Jahr 2024 erarbeitet – «For a responsible, open and inclusive digital Europe». Nicht nur für eGovernment, sondern auch für Initiativen wie eHealth oder eMobilität ist eine akzeptierte Datenpolitik notwendig. Open Data als der neue Rohstoff nicht nur der digitalen Verwaltung, rechtliche Voraussetzungen und Rahmenbedingungen, die die Schweiz zu einem attraktiven Daten-Standort machen, müssen die Ziele der Datenpolitik sein. Nach den grossen Skandalen um Social-Media-Plattformen, die gefährliche Informationen verbreiten und personenbezogene Daten in einem beispiellosen Ausmass missbrauchen, ist an sich die Sensibilität zum Thema Daten in hohem Masse vorhanden. Aber auch hier gilt, es braucht die Verwaltung, die Wirtschaft, die Wissenschaft und die Politik. Nur gemeinsam lässt sich eine Datenpolitik etablieren.

Welche Themen sollen Ihrer Meinung nach im politischen Diskurs aufgenommen werden? Ist der Schweizer Public Sector bereit für Künstliche Intelligenz?

Grundsätzlich sollte sich der Public Sector mit allen neuen Technologien auseinandersetzen. Egal ob Blockchain, Künstliche Intelligenz, Quantencomputing oder Hybrid Clouds, sie alle werden den öffentlichen Sektor beeinflussen. Notwendig für den Public Sector wird es aber sein, sowohl die traditionellen als auch die neuen Systeme zu integrieren. Dabei ist sowohl betriebswirtschaftliches Fachwissen als auch Wissen über neue Technologien Voraussetzung. Es geht eigentlich nicht nur darum, diese miteinander zu «integrieren», sondern sie auch ineinander zu überführen. Eine Kultur der Agilität und Innovation wird zunehmend wichtig. Das Verständnis eines Verwaltungsprozesses und wie Technologie in diesen Ablauf eingebettet werden kann, wird der Schlüsselfaktor für den zukünftigen Erfolg des Public Sectors sein. In diesem Sinne ist man auch für einen konkreten Einsatz von Künstlicher Intelligenz (noch) nicht bereit. Und auch hier gilt es zu beachten, dass man die Regulierung in Grenzen hält.

Die Bundeskanzlei hat (mit NZZLibro) soeben eine Publikation zur Schweiz 2030 herausgegeben: Wie sieht die digitale Verwaltung 2030 aus? Und davon ausgehend: Was sind die nächsten Schritte?

Für die digitale Verwaltung 2030 stehen ja nur noch zehn Jahre zur Verfügung. Das ist sehr wenig Zeit für die Verwaltung. Wenn es jedoch gelingt, alle Strategien – wie die eGovernment Strategie oder die Strategie zur Digitalen Verwaltung – wie geplant umzusetzen, steht die Schweiz sicherlich besser als heute da. Eine grosse Gefahr besteht jedoch darin, dass es nicht gelingt, neue Technologien wie beispielsweise 5G, rechtzeitig einzuführen. Dem Bund kommt dabei die wichtige Rolle zu, vorgängig die Bevölkerung zu sensibilisieren und entsprechende Informationen aufzubereiten. Die Digitalisierung wird immer stärker zur treibenden Kraft für Innovationen in Wirtschaft und Gesellschaft. Die Chancen dieser Transformation proaktiv zu ergreifen ist notwendig, um die Schweiz auch zukünftig als innovativen und wettbewerbsfähigen Wirtschaftsstandort zu positionieren. Deshalb ist es wichtig, dass auch im öffentlichen Sektor den Mitarbeitern – egal ob Mann oder Frau – neue Perspektiven gegeben werden und sie auf die neuen Jobs und Skills entsprechend befähigt werden. Sehen wir Digitalisierung als Chance – auch für den Public Sector!


Zur Person

Dr. Alain Gut ist Director Public Affairs bei IBM Schweiz. Er setzt sich in zahlreichen Kommissionen und Gremien für die Themen Bildung und Informatik, Cyber-Sicherheit, Mobilität und Datenpolitik ein.

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AUTHOR: Alessia Neuroni

Alessia Neuroni leitet das Institut Public Sector Transformation der BFH Wirtschaft. Sie ist Schwerpunktverantwortliche Big und Open Data am BFH-Zentrum Digital Society. Ihre thematischen Schwerpunkte sind Data Governance und Führung behördenübergreifender Innovationsvorhaben.

AUTHOR: Kathrin Schmidt

Kathrin Schmidt ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut Public Sector Transformation der BFH Wirtschaft.

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