Über den Umgang mit Schraubenschlüsseln – Teil II
Niemand fürchtet sich vor dem wachsenden Verlust von Selbstverständlichkeiten in unserer immer komplexer werdenden Gesellschaft. Kaum jemand stört sich daran, dass in der Praxis etabliertes Design- und Engineeringwissen verloren geht – oder genauer daran, dass die Kluft zwischen dem stets sich verbesserndem Stand des Wissens und der weit verbreiteten Praxis immer weiter auseinanderklafft. Aber alle reden über Utopien und Dystopien der Nutzung digitaler Werkzeuge.
Wunder und Ethik sind angesagt in diesen Tagen. Für natürliche Intelligenz bleibt dagegen weniger Zeit. Zu sehr sind die einen damit beschäftigt, Maschinenintelligenz zu verkaufen, und die anderen damit unterwegs, Warnung davor gewinnträchtig in den Markt zu pumpen. Wer soll da noch Gelegenheit zum Nachdenken finden!
Ich habe im Teil I dieser Kolumne Schraubenschlüssel als Metapher für digitale Werkzeuge verwendeten (zu denen die mehrschichtigen neuronalen Netze für Maschinenintelligenz zählen). Ich hätte auch andere Alltagswerkzeuge nehmen können, Scheren zum Beispiel. Jeder weiss, wie gefährlich sie sind – und Heimwerker wissen, wie schwierig es oft ist, als Nichtprofi herauszufinden, welche Art von Schere man benötigt. Meist sind die Verkäufer in den Geschäften, die Scheren verkaufen, völlig ahnungslos und keine Hilfe. Das haben sie mit vielen Verkäufern von Maschinenintelligenz gemein. Darüber hinaus warnen Erwachsene gerne Kinder vor der Nutzung von Scheren – und zwar oft unabhängig davon, ob die Warnung berechtigt ist oder nicht. Das Problem mit der Scherenmetapher ist nur, dass sie so inhaltsreich ist, dass sie den Blick auf das eigentlich Gemeinte verstellt. Darum bleibe ich bei meiner Schraubenschlüsselmetapher.
Wir sehen derzeit, dass in vielen Bereichen die einfache Benutzbarkeit (d.h. Usability) von Schraubenschlüsseln verloren geht, während in anderen Bereichen dank immer professionellerem Design das Nutzungserlebnis (d.h. die UX) mit Schraubenschlüsseln immer toller wird. Wir bekommen an einem Ort immer furchtbarere und am anderen Ort immer tollere Schraubenschlüssel, aber das interessiert weder die Schraubenschlüsselprediger noch die Schraubenschlüsselethiker. Beide Gruppen sind Grossteils zu abgehoben, als dass sie sich für das gemeine wirkliche Leben mit den Schraubenschlüsseln interessieren würden. Sie haben Wichtigeres zu tun, nämlich ihre Konzepte zu verkaufen – meist eingehüllt in die Wolke künstlerischer Unfassbarkeit, die sich dem Verständnis von normalen Menschen entzieht.
Mir geht es um Grundsätzlicheres: um Wissen und Knowhow als Selbstverständlichkeit im Design und Engineering. Dies umfasst die theoretischen Grundlagen des Schraubenschlüsselmachens ebenso wie die etablierten Good Practices und ein Wissen um die wiederkehrenden Bad Practices.
Beispiel: Algorithmen im Gerichtssaal. Zahlreiche Autoren beschäftigen sich derzeit mit ihren Gefahren, aber nur ganz wenige interessieren sich dafür, ob sie von Richtern tatsächlich genutzt werden. Es gibt jedoch einige Evidenz dafür, dass sie weitgehend ignoriert werden, weil Richter keine Analphabeten sind und schon längst mitbekommen haben, wie zweifelhaft ihre Nutzung ist. Die eigentlich interessanten Fragen – beispielsweise die Rekonstruktion von Geschehnissen aus Amateurvideos – sind dagegen vorerst sowohl im wissenschaftlichen als auch im öffentlichen Diskurs nur marginal präsent.
Letzteres wird sich irgendwann ändern und ist meine Sorge nicht. Ich will hier auch nicht situatives Design predigen in Bezug auf Usability und UX oder andere Good Practices für das Design und das Engineering nachhaltig brauchbarer digitaler Lösungen. Mir geht es um Grundsätzlicheres: um Wissen und Knowhow als Selbstverständlichkeit im Design und Engineering. Dies umfasst die theoretischen Grundlagen des Schraubenschlüsselmachens ebenso wie die etablierten Good Practices und ein Wissen um die wiederkehrenden Bad Practices. Und dazu gehört auch das Üben, Üben und nochmals Üben beim Schraubenschlüssel machen, dass zur Aneignung von Knowhow führt.
In der Aus- und Weiterbildung stellt uns das vor besondere Herausforderungen. Einerseits müssen wir den Menschen durch die Vermittlung praktischer Erfahrung die Scheu vor der Nutzung nehmen, damit sie nicht blindlings den Dystopie-Predigern und Utopie-Verkäufern (oder umgekehrt) folgen. Anderseits müssen wir ihr Bewusstsein für die Notwendigkeit von viel mehr Wissen und Knowhow fördern, ihnen die Illusion nehmen, dass alles ganz einfach ist, und das Stellen der richtigen Fragen von ihnen einfordern. Wir an der BFH Wirtschaft versuchen diesen Weg im neuen Master-Programm «Digital Business Administration» zu gehen, indem wir die alte Praxis «Zuerst die Theorie, dann die Anwendung!» umkehren. Studierende lernen zuerst, digitale Werkzeuge anzuwenden, und erst im Nachgang die theoretischen Grundlagen, die sie dazu befähigen zu begreifen, warum das eine funktioniert hat und das andere nicht. Dies ist ein Vorgehen, das beispielsweise in der universitären Physik-Ausbildung seit langem angewandt wird (weshalb auch bekannt ist, was dabei schiefgehen kann).
So banal das klingt: Es geht immer um Theorie und Praxis – und es gibt nie einen Widerspruch zwischen beiden, denn eine Theorie, die bei richtiger Anwendung in der Praxis widerlegt wird, ist eine falsche Theorie. Und eine Praxis, die (ausserhalb von wissenschaftlichen Experimenten) gut belegten Theorien zuwiderhandelt ist eine verantwortungslose Praxis. Theoretisches wie generisches Wissen ist unabdingbar, will man Schraubenschlüssel – beispielsweise Big Data und Künstliche Intelligenz – verantwortungsbewusst nutzen.
Das heisst im Fall, dass man ein Grundwissen über Informationsverarbeitung besitzen muss, bevor man ethische Richtlinien aufstellt. Sonst werden diese nämlich schnell zu gemeingefährlichen, menschenverachtenden Instrumenten. Oft sind beispielsweise Maschinen fairer als erfahrene Entscheider, weil sie weniger Informationen verarbeiten. Wer die Nutzung von Maschinenintelligenz blockiert, ist schnell damit konfrontiert, dass er oder sie aus Selbstgefälligkeit – ethisch verantwortungsbewusst zu intervenieren, fühlt sich toll an – Menschenleben gefährdet. Beispielsweise indem er Menschen sterben lässt (in der Gesundheitsversorgung) oder sie dazu verurteilt, ein grausiges Leben zu führen (in der Gerichtspraxis). Gleiches gilt aber auch für jene, die Maschinenintelligenz ohne Verständnis der statischen Grundlagen dort einsetzen wollen, wo sie dem Menschen hoffnungslos unterlegen ist.
Wir sehen uns deshalb konfrontiert mit der Notwendigkeit, gerade wegen Chancen, Risiken und Alltagsproblemen der Schraubenschlüsselnutzung stetig nach der Wahrheit zu forschen UND stetig die fachdisziplinäre Praxis weiterzuentwickeln. Feyerabends «Anything goes» ist hier ein wichtiges Prinzip. Es bedeutet nicht, dass Tun wichtiger ist als Können, sondern dass situativ fittes Wissen und Knowhow für ein erfolgreiches Tun notwendig sind. Das kann alles sein, aber es sollte das Richtige sein, oder besser: das Fitteste was wir beherrschen und das uns hilft, in Zukunft noch richtigere/fittere Lösungen Instrumente zu entwickeln. Wobei allein die Balance zwischen Qualität der Werkzeuge und ihrer Eignung zum Lernen ein grosses Thema für sich ist.
Irgendwie haben die Schraubenschlüssel-Warner schon recht: Diese Schraubenschlüssel machen unser Leben einfach schwieriger. Das ist der Preis dafür, dass unsere Vorfahren vor hunderttausend Jahren angefangen haben, intelligente Werkzeuge zu entwickeln. Ihn nicht zu bezahlen, ist allenfalls eine individuelle, aber keine gesellschaftliche Option.
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