Über den (un)sachlichen Umgang mit Schraubenschlüsseln

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Viele Menschen sind entsetzt darüber, dass in Zukunft viele Arbeiten mit Schraubenschlüsseln ausgeführt werden sollen. Einige finden die Nutzung von Schraubenschlüsseln in hohem Grad lächerlich. Manche erwarten, dass die Schraubenschlüsselnutzung das menschliche Denken und Fühlen grundsätzlich verändern wird. Wissenschafter sagen sogar voraus, dass irgendwann die Schraubenschlüssel die Macht im ganzen Universum übernehmen werden. Schraubenschlüssel sind ein Thema, das ganz offensichtlich hohe Emotionen hervorruft. Warum ist das so?

Mir fehlt die Leidenschaft beim Thema Schraubenschlüssel. Obwohl ich ein Ingenieursdiplom besitze, ausgestellt von einer Schule, die nach einem lokalen Landvermesser benannt ist. Trotz dieses bodenständigen Hintergrunds sind für mich Schraubenschlüssel einfach nur Werkzeuge. Am meisten habe ich über sie bei Theaterbesuchen mit einem Grossmeister des Schraubenschlüsselmachens gelernt. Aber das ist auch schon mein emotionalster Bezug zum Thema. Denn seien wir ehrlich: Schraubenschlüssel sind generische Werkzeuge oder auch generische Werkzeug-Komponenten, die in unterschiedliche Werkzeuge nutzbringend eingebaut werden können. Nicht mehr, nicht weniger.

Sie haben es vermutlich bereits erraten, geschätzte Leserinnen und Leser: Ich denke bei Schraubenschlüsseln nicht an das übliche, metallene Werkzeug, sondern an zeitgenössische Digitalisierungstechnologien, konkret an Künstliche Intelligenz (KI). Diese wurde einst nicht als Werkzeug erfunden, sondern als Instrument, um das menschliche Denken zu verstehen. Der Turing-Award-Gewinner und Wirtschaftsnobelpreis-Träger Herbert Simon entwickelte seine ersten Expertensysteme als Modelle des menschlichen Denkens. Über Jahrzehnte beschäftige sich in der Folge die Forschung zu Künstlicher Intelligenz auch mit der Frage, wie Intelligenz entsteht – respektive «emergiert», wie man das früher nannte. Das alles regte kaum jemand auf, bewegte aber manche zur interdisziplinären Zusammenarbeit. Seit KI aber immer mehr zum Werkzeug wird, ist alles anders. Bei Werkzeugen hört ganz offensichtlich für viele Menschen der Spass auf.

Philosophisch betrachtet, sind Werkzeuge Erweiterungen menschlicher Fähigkeiten und Ausdruck der Cyborg-Natur des Menschen. Aber philosophisch gehen wir mit Werkzeugen selten um. Meist nicht einmal sachlich. Objekt wie Nutzung des Objekts werden uns zur Lust und Freude, manchmal auch zur Last oder zum Symbol der Qual. Und nicht zuletzt zum gesellschaftlichen Muss. Derzeit ist die KI-Nutzung auf dem Weg zum neuen sozialen Muss.

Wir müssen für die Personalrekrutierung unbedingt KI nutzen, erzählen beispielsweise einige HR-VordenkerInnen. Sie implizieren damit: Wir müssen alle Daten über Kandidatinnen und Kandidaten zusammenkratzen, die wir uns beschaffen können, auf welchem Weg auch immer. Demnächst werden sie die KI-Nutzung auch für Beförderungen fordern und für die Steuerung der Mitarbeitenden-Weiterbildung. Zwar haben in digitalen Grosskonzernen die Bürokratiemonster der Weiterbildungshölle schon lange Einzug gehalten, aber mit KI kann ihr Wirken verschärft werden. (Tipp für Jungautoren: Schreibt über die Qualen des Weitergebildeten im multinationalen Konzern! Oder frei nach George Orwell darüber, wie Ihr Euch in die Weiterbildung verliebt habt!)

«Wir müssen», sagen sie hier. «Wir müssen», sagen sie dort. «Wir müssen Maschinenlernen auch Betriebswirten unterrichten», sagen wir beispielsweise an der Hochschule. Zumindest habe ich mich selber im Radio so etwas Ähnliches sagen hören. Wir müssen unsere Absolventinnen und Absolventen fit für die KI machen, die sie in zehn bis fünfzehn Jahren im Beruf erwarten wird, stimmen wir ein in den Kanon der KI-Bewegten. Denn dann werden unsere Absolventen KI selber nutzen müssen.

Stimmt das wirklich? Die Antwort lautet: Ja! Das wichtigste Argument ist dabei ein indirektes. Erwartbar ist: KI wird in den Händen von Müssen-Müssern in Zukunft viel Schaden anrichten. Wir werden geradezu grenzdebile Einsätze von KI erleben. Plus einen endlosen Grundsatzstreit. Bekanntlich tun sich viele Menschen schwer, das Verb «nutzen» und das Substantiv «Nutzen» zu unterscheiden, bevorzugen aber apodiktische Aussagen zum Substantiv gegenüber situativen Aussagen zum Verb. Darüber lässt sich dann trefflich streiten. Wobei der eigentliche Punkt der ist, dass die Grundsatzentscheidung für KI nichts aussagt darüber, dass wir KI in einem situativen Kontext tatsächlich nutzen wollen.

So kommt das Muss im Unterricht von der Möglichkeit in der Praxis, nicht vom Muss in der Praxis. Wer frei über den konkreten Einsatz entscheiden will, benötigt Wissen und ein gewisses Mass an Praxiserfahrung. Deshalb ist es tatsächlich dringlich, dass wir unsere Studierenden in betriebswirtschaftlichen Studiengängen mit KI vertraut machen. Wer mit Digitalisierungs-Detox dagegen hält, sollte bedenken, dass man den Einsatz mächtiger Werkzeuge nicht dadurch verhindert, dass man persönlich auf sie verzichtet. (Dürrenmatt: Die Physiker).

Wir sehen uns also fast eine wenig gezwungen, die KI-Nutzung zu erlernen. Das ist unschön, aber gilt für viele andere Werkzeuge auch. Viele nutzen beispielsweise Whatsapp nicht freiwillig, sondern weil sie dem sozialen Druck und den negativen sozialen Folgen der Nichtnutzung nicht standhalten können oder wollen. Wir leben in relativer Freiheit, aber unter dem Diktat unserer Umwelt: dies gilt insbesondere für die digitale Transformation der Wirtschaft.

Entscheidend ist, dass wir uns dem Diktat dort widersetzen, wo es nur in unseren Köpfen existiert. Das heisst, dass unser Widerstand im Konkreten statt im Grundsätzlichen stattfindet. Das Konzept «wehret den Anfängen» macht bei politischen Verbrechen Sinn, kaum aber bei Technologien. Dem Einzelnen mag es zwar passieren, dass er durch Zufall in eine Technologie-Rutschbahn gerät, aus der es kaum ein Entkommen gibt, aber auch dies ist mehr ein Narrativ als eine Unvermeidlichkeit. Für den Umgang unserer Gesellschaft mit Digitalisierungstechnologien ist diese Gefahr jedoch ziemlich gering. Wirklich gefährlich ist nur das Beharren darauf, nützliche Werkzeuge nicht nutzen zu wollen.

Trotz aller Diskussion über den KI-Hype sollten wir uns zudem regelmässig erinnern, dass KI immer auch ein Instrument zum Erkenntnisgewinn über Intelligenz ist. Die Fragen in diesem Bereich sind nicht beantwortet. Auch wenn einige Teilantworten frustrierend klingen, bleibt die Emergenz von Intelligenz ein wundersames Phänomen, eng verwoben mit dem Entstehen von komplexen Strukturen in energiedurchfluteten Systemen. Wir wissen wenig und verstehen weniger. Solange das so ist, brauchen wir uns vor der Machtübernahme der Schraubenschlüssel nicht wirklich zu fürchten.

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AUTHOR: Reinhard Riedl

Prof. Dr. Reinhard Riedl ist Dozent am Institut Digital Technology Management der BFH Wirtschaft. Er engagiert sich in vielen Organisationen und ist u.a. Vizepräsident des Schweizer E-Government Symposium sowie Mitglied des Steuerungsausschuss von TA-Swiss. Zudem ist er u.a. Vorstandsmitglied von eJustice.ch, Praevenire - Verein zur Optimierung der solidarischen Gesundheitsversorgung (Österreich) und All-acad.com.

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