Augustausgabe: Technologienutzung in der Gesundheitsversorgung – the «missing link»

Die Stimmen sind zahlreich und laut, wenn es um die Chancen der Technologisierung in der Gesundheitsversorgung geht. Das ist schon viele Jahre so. Die Technologisierung soll Patientenoutcomes verbessern, die Lebensqualität erhöhen, die Selbständigkeit fördern, kurz gesagt: das Leben soll mit gesundheitsrelevanten Technologien trotz Krankheit oder Einschränkung lebenswert «bleiben».

Ebenfalls in aller Munde sind Risiken, die mit der Technologienutzung einhergehen. Zu nennen wäre eine mögliche finanzielle oder soziale Benachteiligung, wenn digital erfasste Daten rund um Gesundheit, Krankheit und Einschränkungen in falsche Hände gelangen – wobei, heute müsste es heissen in Softwareprogramme «falscher» PCs. Chancen und Risiken zu adressieren ist wichtig und notwendig. Und trotzdem, die Abhandlung von Chancen und Risiken wirkt simplifiziert, nach einer binären Auseinandersetzung, nach einer Schwarzweisszeichnung und trägt den Hauch vom Willen das Gute und Böse beim Namen zu nennen.

Und jetzt? Es reicht nicht aus Chancen und Risken ins Zentrum der Aufmerksamkeit zu stellen. Sie kennzeichnen unsere Welt, ergriffene oder verpasste Chancen prägen das menschliche Dasein. Risiken sind Wahrscheinlichkeiten, die eintreten können, aber nicht müssen.

Die Technologisierung und digitale Transformation der Gesundheitsversorgung ist Realität. Jetzt ist das Wie und Wer der Technologisierung im Zentrum. Wie kann und soll die Technologisierung der Gesundheitsversorgung aktiv, userorientiert und Setting spezifisch gestaltet werden? Wer sind die zu involvierenden Akteure?

Bislang haben besonders InformatikerInnen, SoftwareentwicklerInnen, etc. und Firmen die Technologisierung im Gesundheitswesen gestaltet und vorangetrieben. Dringend gefragt ist, dass diese Technologie getriebenen Entwicklungen nun stärker an den Realitäten der AkteurInnen, das heisst der Gesundheitsfachpersonen, BürgerInnen beziehungsweise PatientInnen, KlientInnen und BewohnerInnen ausgerichtet werden. Das ist selbstverständlich? Scheint auf den ersten Blick, ist es aber bislang vor allem theoretisch, noch wenig praktisch und oft in Form eines «Feigenblatts». Woran zeigt sich das? Es zeigt sich an all den Technologien, die entwickelt wurden unter Einbezug der Meinung zukünftiger Userinnen und User hinsichtlich Benutzerfreundlichkeit, dann als Technologie im Prototyp Status verharren. Zahlreiche Anwendungen kommen zwar auf den Markt, werden aber im Alltag kaum genutzt oder nur für eine bestimmte Zeit, da sie mit der Realität der User kollidieren und zu wenig deren Bedürfnissen, Prozesse, Wissen und Fertigkeiten berücksichtigen.

Die Benutzerfreundlichkeit einer Technologie ist unbestritten zentral. Jedoch, bislang kaum werden der alltägliche und soziale Kontext der Nutzung, Charakteristika der Userinnen und User, Haltungen und Einstellungen, benötigtes Wissen und Kompetenzen in der Nutzung, soziale Einflüsse und technologiespezifische Implementierungsprozesse exploriert und verstanden.

Was beeinflusst die Nutzung und Nichtnutzung «wirklich»? Es ist keine triviale und vielleicht sogar eine unterschätzte Frage. Denn Technologien werden in einem «real-life» Kontext genutzt, das heisst im Alltag und sozialen Austausch. Technologien können ein Zeichen für «Coolness», Modernität, Fortschrittlichkeit, Offenheit, finanzielle Potenz aber auch schlicht für Gebrechlichkeit, Unzulänglichkeit und nicht «versteckbare» Hilfsbedürftigkeit sein. Technologienutzung wird beeinflusst durch Einstellungen, Haltungen, Emotionen und Erfahrungen, die Personen im Umgang mit Technologien im Allgemeinen und Spezifischen sammeln. Besonders ist, dass im Kontext von gesundheitsrelevanten Technologien auch die Einstellung und Haltung gegenüber der eigenen Gesundheit, Krankheit oder der vorliegenden Einschränkung eine Rolle spielt. Oft ist eine gesundheitliche Schwäche, eine Unzulänglichkeit, eine körperliche oder kognitive Einschränkung Auslöser einer Technologienutzung, wie beispielsweise bei einem Alarmierungsgerät. Hier können unter anderem unsicherer Gang oder Sturzgefahr Auslöser sein. Das kann infolgedessen bedeuten, dass die Nutzung einer Technologie die Selbst- und Fremdwahrnehmung für einen Moment krisenhaft verändert und Überlegungen wie diese evoziert: Welchen Einfluss hat die Technologie auf meine Selbstwahrnehmung? Wer steht «plötzlich» in kontinuierlichem Kontakt mit meinem Alltag? Was denken andere darüber, dass ich diese Technologie «benötige» beziehungsweise nutze? Wer coacht mich in der Nutzung und ist auch spontan bei Anwendungsproblemen Ansprechperson? Weiter verlangt die Nutzung einer gesundheitsrelevanten Technologie oft auch Verhaltensänderungen und Lernprozesse sowie Anpassungen in der Alltagsroutine.

Verglichen mit der Technologienutzung im beruflichen Alltag zeigt sich, dass die Technologienutzung im gesundheitsrelevanten Kontext sich um einiges komplexer präsentiert. Während im beruflichen Alltag ein gewisser Zwang zur Nutzung besteht, und Technologienutzung eher mit Kompetenz und Effizienzsteigerung verbunden wird, sind diese Aspekte im gesundheitsrelevanten Kontext kaum gegeben.

Es lässt sich überzeichnet folgern: raus aus der isolierten Betrachtung der Funktionalität, Handhabbarkeit und Benutzerfreundlichkeit der gesundheitsrelevanten Technologie und rein in den «real-life» Kontext der User. Es könnte der «missing link» zu einer langfristigen Technologienutzung im Alltag sein.

Eine spannende Lektüre wünscht Ihnen

Friederike Thilo

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AUTHOR: Friederike J. S. Thilo

Prof. Dr. Friederike Thilo ist Leiterin Innovationsfeld "Digitale Gesundheit", aF&E Pflege, BFH Gesundheit. Ihre Forschungsschwerpunkte sind: Design Zusammenarbeit Mensch und Maschine; Technologieakzeptanz; need-driven Entwicklung, Testung und Evaluation Technologien im Kontext Gesundheit/Krankheit; datenbasierte Pflege (Künstliche Intelligenz).

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