Das Theater im digitalen Wandel
Das Theater ist das älteste Medium der darstellenden Kunst und war bis zur Erfindung des Films auch das einzige. Die Themen des Theaters sind grundsätzlich deckungsgleich mit den Themen der Gesellschaft, in denen es spielt. Wie es in die digitale Zukunft gehen kann, schreibt der deutsche Dramaturg Carl Hegemann.
Das Setting des Theaters aber ist einzigartig und exklusiv, auch wenn sich in vielen Bereichen unserer Kultur und sogar schon bei den Tieren theatrale Elemente finden lassen. Mit der Entwicklung der technischen Bilder im Film und in den digital generierten Welten des Computers gibt es jetzt konkurrierende Formen darstellender Kunst, die die Möglichkeiten des alten Theaters, das nur mit körperlich anwesenden Menschen auf der Bühne und im Publikum funktionieren kann, in vieler Hinsicht überschreiten.
Neue Erzählformen
Das digitale Theater bietet völlig neue Formen der Darstellung, und es emanzipiert sich von der physischen Begrenztheit der menschlichen Akteure und von der raumzeitlichen Einmaligkeit der Aufführungen und setzt an ihre Stelle unendliche Entfaltungsmöglichkeiten im virtuellen Raum, die nur noch durch die Phantasie begrenzt sind, aber nicht mehr durch physische oder psychische Dispositionen. Durch die Möglichkeiten digitaler Techniken lassen sich auch komplexeste Fiktionen und traumhafte Situationen intersubjektiv wahrnehmbar machen, unabhängig von Raum, Zeit und «leiblicher Kopräsenz» der Akteure.
Durch die neue Technologie erwachsen der darstellenden Kunst also ungeheure Möglichkeiten, von denen das traditionelle Theater nur träumen konnte. Dadurch wird aber das alte Theater, wie es seit 2500 Jahren ohne strukturelle Veränderungen existiert hat, nicht überflüssig. Denn die neue Entwicklung tendiert zur Körperlosigkeit.
Setting ändert sich grundlegend
Waren schon im Kino nur die Zuschauer körperlich kopräsent, während die Akteure nur auf der Leinwand, also unkörperlich, in Erscheinung traten, und ihr physischer Körper ganz woanders war, z.B. am Pool in Hollywood, so ist es in der digitalen Welt auch mit der leiblichen Kopräsenz der Zuschauer vorbei, die alle einzeln vor ihrem Computer sitzen. Bei diesen neuen Formen der darstellenden Kunst wird also eine entscheidende Voraussetzung des Theaters ausser Kraft gesetzt: die körperliche Anwesenheit der beteiligten Spieler und Zuschauer in einem Raum. Theater als Akt der Begegnung von Menschen aus Fleisch und Blut ist mit den neuen Medien nicht zu haben. Dieses Alleinstellungsmerkmal des alten Theaters macht dieses auch im Zeitalter neuer Medien unersetzlich. Und, wie man im Gegenwartstheater sehen kann, kann es auf der Bühne neben seinen traditionellen Requisiten auch die neuen medialen Apparate Kameras, Screens, Bildschirme etc. auf die Bühne bringen und in seinen über das traditionelle Theater hinausgehenden Möglichkeiten nutzen. Dadurch fällt es nicht hinter die technische Entwicklung zurück und kann trotzdem sein Alleinstellungsmerkmal behalten.
Ein modernes gegenwärtiges Theater muss auf dem Stand der Produktivkräfte sein, sonst verwandelt es sich in ein Museum. Und diese Herausforderung nimmt das Theater nach anfänglichem Zögern mittlerweile an, wie man z. B. an so unterschiedlichen Regisseuren wie Kay Voges und Frank Castorf beobachten kann. Das führt im Theater zu einer noch vor 100 Jahren kaum vorstellbaren Situation, dass im Medium Theater technische Medien auftauchen, die ebenfalls Darstellungen ermöglichen, dass wir also im Theater und als Theater eine Auseinandersetzung mit qualitativ verschiedenen Formen darstellender Kunst verfolgen können, die elektronisch ist und mit virtuellen Darstellungen arbeitet.
Von Liveerlebnis zu Streaming
Mit dieser Entwicklung der Öffnung des Theaters gegenüber seiner elektronischen und digitalen Konkurrenz bekommt aber auch ein anderer Gedanke neues Gewicht, der seit der Erfindung der filmischen und elektronischen Aufzeichnungsmöglichkeiten die Theater beschäftigt: Wie kann man die flüchtigen Ereignisse, die live und unwiederholbar auf der Bühne stattfinden, konservieren und für andere, die bei der Aufführung nicht dabei waren, zugänglich machen? Und die Antwort wird schon seit Jahren praktiziert: Indem man sie aufzeichnet. Mit den neuen Medien ist tatsächlich die Möglichkeit entstanden, das Uraltmedium Theater über den Zeitpunkt der Aufführungen hinaus zu erhalten und zugänglich zu machen. Zwar ist klar, dass diese Aufzeichnungen die wirklichen Aufführungen niemals ersetzen können, da ihnen der Live-Charakter und die leibliche Kopräsenz fehlen, aber als Dokumente der Entwicklung des Theaters im Zeitalter der neuen Medien können sie Theatermachern und Zuschauern, aber auch den Wissenschaften unersetzliche Einblicke und Erinnerungen liefern, Material, das in seiner Aussagekraft und Unabhängigkeit weit über die archivierte Theater-Berichterstattung (mit analogen Fotos, Texten, Kritiken und Dokumenten) hinausgeht und sie entscheidend ergänzt.
In den letzten Jahrzehnten wurden meist für interne Zwecke an den Stadttheatern und von den freien Gruppen im deutschsprachigen Raum fast alle Inszenierungen aufgezeichnet, sicher in unterschiedlicher Qualität, aber immer zumindest für bestimmte Interessengruppen höchst aussagekräftig. Und diese Aufzeichnungen sind immer auch ein Dokument für die Leistungsfähigkeit und Vielfalt der deutschsprachigen Theaterlandschaft, die nicht nur in den Metropolen, sondern auch in vielen kleinen Städten stattfindet, und die zurecht dem ideellen Weltkulturerbe zugerechnet werden sollen.
Archivieren und Zugang ermöglichen
Dieses Material zu sammeln und durch die neuen Techniken auf einfache Art allen, die es interessiert, umfassend zugänglich zu machen, ist folgerichtig und dank der digitalen Entwicklung ohne übertriebenen Aufwand möglich, wenn die Theater bereit sind, ihre Archive dafür zu öffnen und (mit differenzierter Zugangsberechtigung) zur Verfügung zu stellen.
Nun gibt es mit Spectyou eine Initiative, die sich zur Aufgabe gemacht hat, eine digitale Plattform zu schaffen, die diese umfassende Archivierung und Vernetzung leisten soll. Ohne kommerzielle Interessen aber mit viel Know How werden hier die Bedingungen geschaffen, die Digitalität für das analoge Medium Theater zu nutzen. Das geht natürlich nicht ohne Kooperation mit möglichst vielen Theatern und freien Gruppen, denn von deren Material lebt es. Der Reiz, die Ergebnisse der eigenen Theaterarbeit zu erhalten und auch in Zukunft zugänglich zu machen, dürfte für viele ein starkes Motiv sein, diese Initiative zu unterstützen. Der Theatergeschichtsschreibung und der Entwicklung der darstellenden Kunst im digitalen Zeitalter käme es mit Sicherheit zugute.
Ich denke die Frage ist nicht nur ob die Theater ihre Archive öffnen. Selbst wenn sie das täten, steht immer noch die Rechtefrage der Verlage im Raum. Es ist ja bei weitem nicht so, dass z.B. während des Lockdowns in der Corona-Krise die Theater ihre Streaming-Angebote von Stücken, die in der Regel auch noch kostenlos angeboten wurden, umsonst von den Verlagen bekamen – ganz im Gegenteil! Und wenn nun ein Theater das Stück «XY» aus dem Archiv frei gibt, das Theater «ABC» jedoch dieses Stück auf dem Spielplan hat, dann wir der Streamingdienst das schlicht aus urheberrechtlichen Gründen in der Stadt, in dem sich beide Theater befinden, gar nicht streamen.
….dürfen.