Die Zukunft des Lesens
Wie verändert sich unser Leseverhalten im digitalen Zeitalter? Haben Bücher eine Zukunft? Mit diesen und weiteren Fragen beschäftigt sich die Leseforschung. Über den aktuellen Stand schreibt der Literaturwissenschaftler Gerhard Lauer von der Universität Basel.
«Das Internet ist dem Buch sein Tod» – davon sind viele überzeugt, und sie sind es noch mehr, wenn es um das Lesen von Literatur geht. Facebook und Twitter brauchen nur eine oberflächliche Aufmerksamkeit, das Skimming von Informationen, aber keine vertiefte Lektüretechniken mehr. So unterschiedliche Köpfe wie der Wissenschaftsjournalist Nicholas Carr oder die Leseforscherin Maryanne Wolf kommen zu demselben Ergebnis, dass sich die jahrhundertelange kultivierte Technik des Lesens im digitalen Zeitalter auflösen werde (1). Das ‚deep reading‘, das gründliche und nachdenkliche Lesen gerade auch von guter Literatur verliere sich und die Folgen für die Gesellschaft seien dramatisch. Solche und ähnliche Thesen bestimmen Talkshows und Feuilletons und Besteller wie die Bücher etwa von Manfred Spitzer wiederholen die Thesen vom Ende des Lesens mit den immergleichen Argumenten. Das ist der Konsens einer Selbstverständigung, mit der sich unsere Gesellschaft längst in die Routinen der Kulturkritik eingerichtet hat, gerade wenn es um Lesen und Bücher geht.
Tatsächlich ist fast alles knapp, aber doch neben der Wahrheit über das Lesen im digitalen Zeitalter. Das aber bemerkt man nur, wenn man das Methodenset der Leseforschung um einige entscheidende Methoden erweitert. Leseforschung ist in der Schweiz und in den deutschsprachigen Ländern anders als in Skandinavien oder in Grossbritannien eher ein Stiefkind, von dem unklar ist, welcher Disziplin es zugehört, der Psychologie oder der Literaturwissenschaft, der Soziologie oder der Pädagogik. Die unklare disziplinäre Zuordnung hat Folgen und das umso mehr, als Lesen gegenwärtig andere Formen annimmt und sich damit erst recht den disziplinären Ordnungen des 20. Jahrhunderts entzieht.
Der Nachwuchs liest unverändert Bücher
Da sind zunächst einmal Daten sehr unterschiedlicher Art. Die einen kommen von der Gesellschaft für Konsumgüterforschung. Sie hat sich im Auftrag des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels das Konsumentenverhalten in Sachen Bücher näher angeschaut. Ihre auf Leitfadeninterviews basierende Daten zeigen einmal, dass Bücher immer noch gekauft werden und der Umsatz immer noch stimmt. Allerdings nimmt die Zahl der Buchkäufer ab, noch genauer vor allem die Zahl der jungen BuchkäuferInnen nimmt ab. In der Pressemeldung zur Frankfurter Buchmesse 2018 wurde aus der sinkenden Zahl der jungen BuchkäuferInnen auf schwindende LeserInnen geschlossen. Das Medieninteresse war entsprechend gross: Die Jungen lesen nicht mehr, hiess es. Ursache sei die Medienkonkurrenz, besonders die Konkurrenz zu Internet und Computer. Die anderen Zahlen kommen von den MIKE- und JAMES bzw. KIM- und JIM-Studien, mit der verschiedene Forschungseinrichtung durch Telefoninterviews versuchen zu ermitteln, welche Medien Kinder und Jugendliche nutzen und vor allem ob sie noch lesen. Schaut man sich dort die Antworten näher an, ob Jugendliche täglich oder mehrmals pro Woche ein Buch lesen, dann sieht man, dass sich die Zahlen von 2008 bis 2018 kaum verändert haben. Praktisch unverändert lesen etwa 40 Prozent der Jugendlichen täglich oder mehrmals pro Woche.
Beide Befunde passen nicht recht zusammen, hier die schwindende Leserschaften gerade unter den jüngeren Menschen, dort die vergleichsweise konstanten Zahlen unverändert lesender junger Menschen. Geisteswissenschaften im 21. Jahrhundert können hier lernen, genauer hinzusehen, wenn sie ein paar sachliche und methodische Dinge anders machen als Geisteswissenschaften im 20. Jahrhundert. Das fängt damit an, dass natürlich Verkaufszahlen von Büchern nicht mit Leserzahlen gleichzusetzen sind. Auch wenn jüngere Menschen weniger Bücher kaufen, also auch weniger E-Books, die tatsächlich ja eher von älteren, intensiven Lesern gekauft werden, dann bedeutet das noch nicht, dass weniger gelesen wird, sondern durchaus und in grosser Zahl auch intensiv gelesen wird und nicht nur kurze Texte.
Lesen in virtuellen Netzwerken
Um eine bessere Leseforschung betreiben zu können und die Zusammenhänge präziser zu erfassen, müssen Geisteswissenschaften zunächst ihr Gegenstandsfeld erweitern. Nicht nur Bücher und ihre Verwandten wie E-Books sind in den Blick zu nehmen, sondern die sozialen Internet-Plattformen für Lesen und Schreiben. Das sind Wattpad, Goodreads oder Lovelybooks, um nur die bekanntesten und auch grössten zu nennen. Auf Wattpad sind ungefähr 40 Millionen zumeist junge Menschen unterwegs. Der Betreiber behauptet, dass eine von drei jungen Frauen in den Industrienationen dieser Welt einen Wattpad-Account habe. Auch wenn das eine Übertreibung in eigener Geschäftssache sein dürfte, so deutet es die Dimension eines Lesens jenseits von GfK-Zahlen, Börsenverein und Feuilleton an. Etwa 100.000 Geschichten werden auf Wattpad jeden Tag geteilt. Sie werden von jungen, zwischen 15 und 25 Jahren alten Frauen und seltener von jungen Männern geschrieben, auf dem Smartphone gelesen und kommentiert. Ein neues Kapitel einer erfolgreichen Autorin zieht durchaus 100.000 Kommentare auf sich. Wenn Anna Todd eines ihrer Bücher beendet, dann fragen viele Leser und noch mehr Leserinnen, welchen Sinn ihr Leben noch haben kann, wenn dieses Buch zu Ende ausgelesen ist. Das haben sich schon die Leser von Rousseaus «Novelle Héloïse» und von Goethes «Werther» gefragt. Das waren damals wenige, heute sind es viele, sehr viele.
Leseforschung muss Methoden erweitern
Um diese sehr vielen digitalen Leserinnen und Leser in den Blick nehmen zu können, braucht es einer erheblichen Erweiterung der geisteswissenschaftlichen Methoden. Das ist die zweite Änderung für die Geisteswissenschaften nach der Veränderung ihres Gegenstandsfeldes. Zunächst lassen sich Daten nicht einfach erheben. Daten-Scrabing etwa mit Scripting Languages wie Python steht bislang nur auf dem Lehrprogramm der Informatik, nicht auf dem der Literaturwissenschaft oder Pädagogik. Dazu notwendig sind ausserdem Kenntnisse über das Speichern von sehr grossen Datenmengen und dem Umgang mit virtuellem Webspace. Nicht nur andere Gegenstände rücken also in den Blick geisteswissenschaftlicher Fächer, sondern auch ihre Methoden ändern sich. Um in diesen grossen Datenmengen überhaupt etwas finden zu können, sind Kenntnisse des Data Mining, Machine Learning und überhaupt statistischer Auswertungsverfahren sehr nützlich. Auch sie müssen wir in den Geisteswissenschaften erst erwerben. Man spricht dann gerne mit dem Stanforder Komparatisten Franco Moretti auch von ‚Distant Reading‘ und meint damit, dass nicht mehr nur die wenigen, kanonische Werke ausgedeutet werden, sondern die grosse Menge des Gelesenen und geteilten Lesestoffs Gegenstand etwa der Literaturwissenschaft sind. Es verändern sich also Gegenstand und Methoden. Das ist etwas anderes als nur ein anderer ‚Turn‘, was in Fächern wie der Literaturwissenschaft nur ein gehobenes Wort für Mode ist. Hier aber geht es nicht um Moden, sondern über eine Transformation des Fachs, die bleiben wird, ja an deren Anfang wir erst stehen.
Das Potential von Machine Learning
Vielfach wird daraus fälschlich gefolgert, dass damit traditionelle geisteswissenschaftliche Kenntnisse und Methoden obsolet würden. Gerade etablierte Fachvertreter vermuten das und lehnen daher grundsätzlich neue und gerade computergestützte Methoden ab. Das ist aber ein Fehlschluss. Gerade ein so avanciertes Verfahren wie Machine Learning braucht sehr gute historische, soziale und kulturelle Kenntnisse im jeweiligen Gegenstandsfeld, denn gutes Machine Learning hängt vom Trainingsset ab, also von den Daten, anhand derer eine Maschine Muster zu erkennen lernt und diese Muster dann auf andere Daten, das Testset, überträgt (2). In unserer Forschung zum Lesen im digitalen Zeitalter nutzen wir daher ebenso qualitative Forschungsansätze wie quantitative. Wir gehen ins Feld, sprechen mit den jungen Lesern und Leserinnen, nutzen Fragebögen und Leitfaden-Interviews genauso wie wir Machine Learning nutzen. Beides gehört zusammen. Methodenstreits zwischen eher qualitativen und quantitativen Ansätzen wirken unvermeidlich antiquiert, wenn es um Digital Humanities geht. Das alles ist herausfordernd und oft auch irritierend.
Was es für eine geisteswissenschaftliche Forschung im 21. Jahrhundert daher braucht, ist ein Team unterschiedlicher Kompetenzen, denn nur selten kommen alle Fähigkeiten in einer Person zusammen. Es braucht die differenziertesten geisteswissenschaftlichen Kenntnisse, aber auch gute Kenntnisse in Skriptsprachen und Programmieren, viel Erfahrung im Umgang mit grossen Datenmengen oder Datenbanken, eine lange ausgebildete Expertise in der computergestützten Textanalyse, in Leitfaden-Interviews oder auch Ideen zur Visualisierung von Daten, die nicht mehr herkömmlich gelesen werden können. Und schliesslich sind nicht mehr nur das gepflegte Buch oder der Fachartikel die beiden möglichen Publikationsformate. Es gibt mehr. Angefangen von Blogs, weiter über Living Handbooks, aber auch Gitlab und Github, ArXiv.org und andere Adressen, bei denen Artikel, Forschungsprimärdaten und Software abgelegt werden und im glücklichen Fall auch zur Nachnutzung bereitstehen. Kein Zufall, dass es gerade Digital Humanists sind, die solche Formate nutzen und die Ideen von Open Science vorantreiben.
Mit der Digitalisierung ändern sich also Gegenstandsfeld, Methoden und Umwelten von Geisteswissenschaften, mindestens dort wo andere Fragen gestellt werden, als sie üblicherweise in Fächern wie der Literaturwissenschaft gestellt werden. Es ändert sich auch die Forschungspolitik. Dann erst wird sichtbar, was es heisst, im digitalen Zeitalter zu lesen. Die Leserinnen und Leser verschwinden nicht. Sie lesen direkt unter unserer Nase. Es kommt darauf an, Geisteswissenschaften des 21. Jahrhundert zu entwickeln, die solchen lesehungrigen Menschen über die Schulter schauen können.
Referenzen
- Nicholas Carr: Wer bin ich, wenn ich online bin … und was macht mein Gehirn solange? Wie das Internet unser Denken verändert (engl.: The Shallows: Mind, Memory and Media in the Age of Instant Information). Aus dem amerikanischen Englisch von Henning Dedekind. München. Blessing Verlag. 2010. – Neuauflage unter dem Titel: Surfen im Seichten. Was das Internet mit unserem Hirn anstellt. München. Pantheon Verlag. 2013; Maryanne Wolf: Reader Come Home. The Reading Brain in a Digital World. New York 2018.
- Ted Underwood: Why an Age of Machine Learning Needs the Humanities. In: Public Books (12.5.2018).
Dein Kommentar
An Diskussion beteiligen?Hinterlasse uns Deinen Kommentar!