Ethische Herausforderungen bei der Digitalisierung von Tonaufnahmen
Eine Privatsammlung mit über 15’000 Stunden Tonaufnahmen aus den New Yorker Opernhäusern Metropolitan und City Opera sowie der Carnegie Hall hat die BFH erhalten. Im 2018 gestarteten Projekt MET Live werden die Daten nun erfasst, konserviert und für die Interpretationsforschung zugänglich gemacht. BFH-Forscher Thomas Gartmann gibt einen Überblick.
Während 40 Jahren besuchte ein Nerd aus New York und Angestellter der Börse fast Abend für Abend, bewaffnet mit einem Tonbandgerät, Opernaufführungen seiner Stadt. Ausserdem sammelte und tauschte er auch solche Livemitschnitte mit seinen Freunden, beseelt von der Idee, der ephemeren Zeitkunst Oper zu trotzen und den künstlerischen Moment festzuhalten, ja zu verewigen. Nach seinem kürzlichen Tod wandte sich der Nachlassverwalter an das BFH-Zentrum Arts in Context, weil hier unter einem Dach Konservierung, Restaurierung, Musikausbildung und Interpretationsforschung betrieben wird: Der letzte Wille besagte nämlich, dass dieser Schatz einer Institution geschenkt werden solle, sofern sie diesen digitalisieren, den Studierenden zugänglich machen und erforschen würde. Wir nahmen etwas leichtsinnig das Geschenk und dessen Auflagen an, bewarben uns zusammen mit dem E-Government Institut erfolgreich beim BFH-Call for projects zur Digitalität und starteten 2018 das Vorbereitungsprojekt MET Live:
Die Privatsammlung mit über 15’000 Stunden Tonaufnahmen aus den New Yorker Opernhäusern (Metropolitan und City Opera, dazu aus der Carnegie Hall) der Jahre 1970–2010 wird nun erfasst, konserviert und für die Interpretationsforschung zugänglich gemacht. Darüber hinaus dient die Machbarkeitsstudie dazu, dringliche Fragen zur Erhaltung von Tonarchiven im digitalen Zeitalter zu thematisieren. Es klärt kontextuelle und konservatorische Fragen, entwickelt ein Digitalisierungskonzept, führt anhand eines Versuchskorpus eine erste interpretationsanalytische Studie durch und plant die weitere Sammlungserschliessung.
Dies ermöglicht eine Langzeituntersuchung über 40 Jahre von Repertoire, Interpret*innen und Spielstätten. Der Zustand der Tonträger (DAT und Vierspur-Magnetbänder) ist prekär, sodass die wichtigsten akustischen Zeugnisse rasch erfasst und ausgewertet werden müssen, um diese Unikate zu konservieren. Dazu erarbeitet die Machbarkeitsstudie neue Methoden für effiziente Restaurierung und Digitalisierung. Interpretationsforschung wird durch kognitionsunterstützende Werkzeuge weiterentwickelt und um die internationale Vernetzung der Forschung und die Förderung kultureller Teilhabe ergänzt.
Methodik
Aus dem existierenden Katalog wird eine Datenbank erstellt, die den Inhalt leicht zugänglich macht. Danach wird eine erste Auswahl wertvoller Aufnahmen getroffen, um effizientere Methoden der Restaurierung und Digitalisierung mittels Automatisierung zu erproben. Parallel dazu werden exemplarische Interpretationsanalysen bestimmter Sängerinnen und deren (akustisch) nachvollziehbare Rollenbilder durchgeführt und die Basis geschaffen für eine möglichst offene Nutzung. Am umfangreichen Datenmaterial werden weiters neue Umsetzungen der Sharing Economy im Non-Profit-Bereich erprobt, etwa durch die Entwicklung von Werkzeug-Ökosystemen, die künstliche Intelligenz nutzen zur öffentlichen Kommunikation zwischen Datensammlungen, deren Metadaten, Softwareinstrumenten und Nutzern der „Plattform“.
Im juristischen Graubereich
Rasch zeigte sich, dass mit dieser Arbeit verschiedenste ethische Herausforderungen verbunden sind: Bei den Aufnahmen handelt es sich grösstenteils um sogenannte «Bootlegs», also um einen juristischen Graubereich. Deshalb dürfen die digitalisierten Aufnahmen nicht öffentlich, sondern nur passwortgeschützt zur Verfügung gestellt werden. Immerhin: unbemerkt dürften die Aufnahmen nie erfolgt sein, sondern in stiller Duldung, erfolgten sie doch meist in den vordersten Parkettreihen mit dem DAT- oder gar Spulen-Gerät auf dem Schoss. Auch die moralische Ebene gilt es zu bedenken: Die Aufnahmen an der MET fallen just in die Zeit, da James Levine dort langjähriger Musikdirektor war. Weil ihm sexueller Missbrauch vorgeworfen wird, entliess ihn die Oper, was er mit einer Klage beantwortete. Inzwischen wurden einige seiner Aufnahmen zerstört und aus den Katalogen zurückgezogen.
Auch künstlerisch ist das Projekt nicht unproblematisch: Gerade bei Sängerinnen und Sängern ist die Tagesform sehr unterschiedlich, die Stimme kann indisponiert sein, und trotzdem wird die suboptimale Performance konserviert. Uns gibt dies aber einen breiteren Zugang zu den Künstlerpersönlichkeiten, gerade wenn man auch Höreindrücke gewinnt, wo es eben nicht der beste Tag war. Mit dem Ton allein haben wir allerdings nur die Hälfte einer Bühnenperformance vor uns, wenn wir Gestik, Mimik und die Raumbewegung nur imaginieren können. Unter konservatorischer Perspektive muss man sagen, dass die Bänder alles andere als ideal behandelt wurden: um Material zu sparen, wurden sie auf beidseitig bespielt, mit entsprechendem Durchschimmern und Vorechos. Und sowohl die New Yorker Stadtwohnung wie auch die uns von der BFH zur Verfügung gestellten Archiv-Räumlichkeiten waren einiges wärmer als erfordert, gerade was den letzten Hitzesommer betrifft.
Aufnahmequalität abhängig von Dateiformat
Jede Aufnahme ist natürlich technisch bereits eine Verfälschung: Die analogen Daten eines Magnettonbandes geben das Frequenzspektrum einer Stimme und deren Formanten, die den vokalen Glanz und ihre Färbung bestimmen, nur unzulänglich wieder; dass die Aufnahmen zudem nur mit einer langsamen Bandgeschwindigkeit erfolgten und nachher auf einen neuen Tonträger überspielt wurden, ist wiederum mit einem Qualitätsverlust verbunden. Die Digitalisierung zu den Formaten mp3 und wav wiederum bedeutete eine weitere Komprimierung und Verzerrung. Leer schlucken mussten wir auch, als wir die unterschiedlichen Offerten erhielten: In den Verhandlungen zeigte sich, dass Preise Glücksache sind, wenn man sie um einen Faktor 2 oder gar 3 herunter handeln kann. Wie weit ist dies noch ethisch vertretbar? Und wie soll man damit umgehen, dass die Endpreise hierzulande noch immer zwei bis dreimal so hoch sind wie im Nachbarland? Soll die BFH Heimatschutz da betreiben oder heimische Partner vergrämen?
Schliesslich mussten wir uns forschungsethisch fragen: Wie weit können wir bei den Interpretationsstudien uns auf digitale Tools wie den Sonic Visualizer verlassen: In diesem bildgebenden Verfahren lassen sich exakte Tonhöhe (Expressivität der Intonation) und Dauer (Agogik), aber auch Intensität (Dynamik) sowie Vokalfärbung und Klangcharakter (Spektrum) grafisch festhalten. Sollen wir bei der Musik aber nur unseren Augen trauen oder müssen wir auch unsere Ohren zu Hilfe nehmen? Und wie weit können und sollen wir Forschende uns dabei auch durch Künstliche Intelligenz ersetzen lassen – und haben wir wirklich die notwendige Kompetenz dafür? Jedenfalls sollten wir uns bei all diesen Fragen um einen integrativen Ansatz bemühen und multiperspektivisch scheinbar objektive resp. subjektive Befunde auf einander beziehen. Und wir dürfen alles messen, was wir messen können. Wir müssen aber wissen, was wir wissen wollen, wie es mit Hans-Joachim Hinrichsen einer der führenden Interpretationsforscher formulierte.
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