Schreiben und Schreibprozesse im digitalen Zeitalter

Dank verschiedener Apps und Schreibprogrammen erhalten wir Daten über die Art unseres Schreibens auf den verschiedenen Geräten. Dies lässt Rückschlüsse über die Schreiberin oder den Schreiber zu.

Das Verfassen von kurzen und längeren Texten ist ein bedeutender Teil unserer Kommunikation. Wir schreiben heute mehr denn je und vor allem in elektronischen Medien: mehrmals täglich sowohl an spezifische Adressaten (z.B. WhatsApp, SMS) als auch an ein breiteres, eher unbestimmtes Publikum (z.B. Tweets, Facebook-Mitteilungen). Wir schreiben zudem in mehr und sehr verschiedenen Kontexten und Textsorten. Früher Mündliches ist heute oft schriftlich (etwa auf WhatsApp) und Geschriebenes wird kombiniert mit gesprochenen Mitteilungen. «Schreiben» ist heute multimodal. Wir schreiben mit verschiedensten Geräten (vom Telefon mit virtueller, sehr kleiner Tastatur bis zum PC mit klassischer Tastatur) und mit unterschiedlicher Software (Übersicht in: Mahlow & Dale 2014). Die Schreibgeräte unterstützen oder erschweren individuelle Schreibstrategien und -vorlieben.

Texte

Die Geisteswissenschaften beschäftigen sich unter verschiedenen Gesichtspunkten mit Texten in unterschiedlichster Ausprägung. Traditionell liegt der Fokus in der Linguistik, Literaturwissenschaft, Kulturwissenschaften, oder auch der Computerlinguistik und den Philologien auf dem Produkt des Schreibens, seien es Manuskripte oder publizierte Werke. Auch in Projekten, die Alltagstexte untersuchen – wie sms4science und What’s up Switzerland – oder Texte von professionellen Schreibern – wie im Projekt Schreibgebrauch  – wird der Schreibprozess selbst weitgehend ausgeblendet. Die Untersuchung des Produkts erlaubt jedoch keine Rückschlüsse auf den Entstehungsprozess.

Schreibprozessdaten

Die Untersuchung des Schreibprozesses selbst – welche Varianten von Formulierungen probieren Autoren, warum entscheiden sie sich für eine davon, wie redigieren sie, welche Schreibstrategien verfolgen und verfeinern sie, wie gehen sie mit ihren Werkzeugen um, etc. – spielt somit immer noch nur eine untergeordnete Rolle. Nur selten ist es möglich, vom Schreibprozess selbst einen Eindruck zu erhalten und ihn zu rekonstruieren. Von einigen Autoren sind Manuskripte erhalten, die zum Teil mehrfach überarbeitet wurden, wie etwa von Max Frisch:

Abbildung: Max Frisch. Entwürfe zu einem dritten Tagebuch. Berlin: Suhrkamp, 2010. S. 178

An dem Beispiel kann man erkennen, dass Frisch offenbar bereits während des Schreibens mit der Schreibmaschine redigiert und vermutlich später mindestens zwei verschiedene Stifte benutzt hat, möglicherweise auch zu verschiedenen Zeitpunkten – aber bereits das ist Spekulation. Eine genaue Datierung oder nur eine Rekonstruktion der Reihenfolge der Streichungen und Ergänzungen ist nicht möglich.

Die heute weit verbreitete Verwendung von digitalen Schreibwerkzeugen (ob voll ausgebaute Textverarbeitungsprogramme wie MS Word oder bewusst reduzierte Tools wie iA Writer  oder Ulysses, in Anwendungen wie Facebook oder Learning-Management-Systeme integrierte Editoren wie Atto  oder TinyMCE, Apps wie WhatsApp) ermöglichen prinzipiell die direkte und detaillierte Beobachtung von Schreibprozessen durch die Aufzeichnung von Tastendrücken, dem sogenannten Keystroke-Logging, in der realen wie in der experimentellen Benutzung (dann oft auch ergänzt um Eye-Tracking, die Aufzeichnung von Augenbewegungen).

Keystroke-Logging

Keystroke-Logger wie Inputlog zeichnen beim Schreiben zu jeder Aktion verschiedene Datenpunkte auf: den exakten Zeitpunkt, wann eine Taste gedrückt und wieder losgelassen wird, um welche Taste es sich handelt und welches Zeichen damit erzeugt wird. Einige Tasten erzeugen direkt Zeichen (z.B. Buchstaben und Ziffern), andere Tasten erzeugen selbst keine Zeichen (z.B. Shift), sondern verändern in Kombination mit anderen deren Resultat: «a» erzeugt ein kleines «a», «Shift + a» erzeugt ein grosses «A». Andere Tasten haben gar keinen Effekt auf den Text (z.B. Cursortasten, die nur der Navigation dienen).

Die Zeit in Millisekunden zwischen dem Loslassen einer und dem Drücken der nächsten Taste kann sehr kurz sein, unter 100 ms für geübte Schreiber, die das 10-Finger-System beherrschen. Sie kann auch länger sein, abhängig von der Position der folgenden Taste (und wie schnell der Schreiber sie erreicht), von der sprachlichen Einheit (zwischen Wörtern ist die Zeitspanne grösser als zwischen Buchstaben, zwischen Sätzen grösser als zwischen Wörtern (Torrance & Nottbusch 2012)) und von kognitiven Vorgängen (beim Überlegen zur Fortsetzung des bereits Geschriebenen entstehen echte «Pausen»).

Die aufgezeichneten Daten erlauben Rückschlüsse auf Planungs- und Schreibstrategien:

  • wird ein Text erst linear geschrieben und dann überarbeitet,
  • werden Teile eines Satzes überarbeitet, sogar bevor dieser vollständig ist,
  • gibt es Muster, wie ein Schreiber nach eher kurzen und eher langen Pausen weiterfährt.

Verwendung von Logging-Daten

Mittlerweile sind solche Logging-Mechanismen in verschiedenen Editoren verfügbar. Etherpad, wie es beispielsweise auch in Lernplattformen wie Moodle integriert werden kann, erlaubt es, die Entstehung eines Textes – der zudem von verschiedenen Personen auch gleichzeitig bearbeitet werden kann – «abzuspielen», d.h., man kann sich den Entstehungsprozess noch einmal ansehen.

In einer kürzlich durchgeführten Studie (Dimakos & Mahlow 2018) wurde so etwa deutlich, dass junge Erwachsene die physische Tastatur eines PC in unerwarteter Weise bedienen: Für Grossbuchstaben und Sonderzeichen verwenden sie Caps-Lock, nicht die Shift. Dies ist insofern auffällig, als damit mehr Tastendrucke notwendig sind, denn Caps-Lock muss explizit wieder gedrückt werden, um Kleinbuchstaben schreiben zu können. Unsere Hypothese ist, dass junge Erwachsene inzwischen hauptsächlich auf virtuellen Tastaturen von Tablets und Smartphones schreiben und ihre dort erworbenen Strategien auf die Bedienung anderer Geräte übertragen. Mittels Aufzeichnungen von Schreibsitzungen durch Keystroke-Logging sowie Befragungen der Teilnehmenden zu Schreibgewohnheiten, wollen wir dieser Hypothese noch genauer nachgehen.

Fazit

Die Digitalisierung stellt für die Schreibforschung eine einmalige Chance dar, Textproduktion und Schreibprozesse im Detail und im grossen Umfang zu verfolgen und zu analysieren. Die Ergebnisse können in vielen Bereichen wichtige Aufschlüsse geben, von der Pädagogik bis zur Softwareentwicklung.


Referenzen

  1. Ioannis Dimakos & Cerstin Mahlow. Greek University Students’ Typing Skills: A preliminary investigation. Vortrag auf der SIG Writing Conference, Amsterdam, 2018.
  2. Cerstin Mahlow & Robert Dale. Production Media: Writing as Using Tools in Media Convergent Environments. In Eva-Maria Jakobs und Daniel Perrin (Hg.) Handbook of Writing and Text Production, Bd. 10 von Handbooks of Applied Linguistics, 209–230. Berlin, Germany: De Gruyter Mouton, 2014.
  3. Mark Torrance & Guido Nottbusch. Written Production of Single Words and Simple Sentences. In Viginia Wise Berninger (Hg.) Past, Present, and Future Contributions of Cognitive Writing Research to Cognitive Psychology, 403-422. Hove: Psychology Press, 2012.
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AUTHOR: Cerstin Mahlow

Cerstin Mahlow ist promovierte Computerlinguistin und Assoziierte Senior Fellow des Walter Benjamin Kolleg der Universität Bern. Als Fachspezialistin E-Learning und E-Didaktik arbeitet sie an der Fachstelle Hochschuldidaktik & E-Learning der BFH.

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