Dezemberausgabe: «Die Geisteswissenschaft und die Künste in der digitalen Welt»
Die Digitalisierung fördert die Selbstoptimierung. Sie dekonstruiert, entbündelt, rekombiniert und neuinterpretiert alles und erhöht dabei die Komplexität so stark, dass es naheliegt, sich gänzlich vom Wunsch zu verabschieden, irgendetwas zu verstehen. Dafür zeigt sie uns permanent unser digitales Spiegelbild und verführt uns dazu, dieses virtuelle Abbild unseres Seins zu unserem eigentlichen Ich zu machen. Ja, sie macht viele von uns geradezu süchtig nach der augenblicklichen Aufmerksamkeit anderer für unser virtuelles Abbild. Das wiederum treibt die Selbstoptimierung vorwärts und der ökonomisch-politische Hype um Transparenz macht unser gesamtes Handeln zum Optimierungsgegenstand. Stück um Stück vernichtet er die Rückzugsräume. Immer grössere Anteile des Seins werden digital ausgeleuchtet, Fiktionen und symbolische Räume werden durch ihre Allgegenwart in Nichts aufgelöst. Bis dass nur mehr «ich» und «authentisch» das Sein bestimmen, irgendwann. So wird Thatchers These von der Inexistenz von Gesellschaft und Gemeinwohl nun doch Wirklichkeit. Nur dass in der digital transformierten Welt uns in so vielen Aspekten ein Stillstand droht, dass all die gefühlte Beschleunigung des Wandels uns Richtung Vergangenheit zu treiben scheint. Wobei noch unklar ist, ob uns vorgeschichtlicher Zustände drohen oder feudalistische jüngeren Datums. Die zukünftigen digitalen Lebensumstände, das zeichnet sich derzeit ab, sie werden ein Zustand sein. Der Zustand der digital transformierten Ansammlung der Menschen, von digitalen Mutanten, denen alles Beziehung und nichts Gemeinschaft ist.
Ich lese gerade Guillaume Paolis «Gentrifizierung der Kultur» und habe im obigen Absatz einige seiner Perspektiven in digitale Kleider gesteckt. Sie passen nicht schlecht – die Kleider und Paolis Mutationsbeobachtungen. Wie Felix Staler in «Kultur der Digitalität» schreibt: Viele der derzeit dominierenden kulturellen Trends hat die Digitalisierung nicht erfunden, aber von den Rändern der Gesellschaft ins Zentrum geholt und gross gemacht. Mit dem Verlust des Sinns im Leben ging auch die Lust am Sinnfreien verloren – oder umgekehrt: Ohne das Sinnfreie gibt es keinen Sinn für unser Leben, aber dafür umso mehr Optimierungsbedarf. Was für kein Spass!
Fake News haben uns befreit, zweifelsohne! Befreit von der Zwängerei der Fakten. Daten sind alles und Daten sind nichts. Im postheroischen Zeitalter von Scott Adams Superpersuader erklären uns hochkarätige Lebensberater wie der Historiker Yuval Harari in «21 Lectures for the 21st Century», dass wer die Wahrheit liebt, zu den Affen gehen soll. Es gehe um Macht, Macht, Macht! Damit scheint klar, auch die Humanities werden untergehen, genauer kommerziell entsorgt werden.
Auf der Liste der gefährdeten Disziplinen steht auch die Mathematik. Sie wird durch den Trend zum Nichtverstehen und den Trend zur Anwendung in die Zange genommen und dürfte bald den Maschinen zur Weiterführung überantwortet werden. Damit würde die wesentlichste Stütze der Aufklärung aus der Welt der Menschen entfernt und unwirksam gemacht.
Wenn alles irgendwann dann niedergeschlagen ist und uns endlose Agonie bevorsteht – denn wer würde schon handeln, wenn alle Lüge eine anzuerkennende wahre, weil authentische Meinung ist – ist das dann der Beginn des Aufstiegs der Maschinen zur herrschenden Spezies, nicht nur auf der Welt, sondern im Universum?
Wahrscheinlich nicht. Globalgalaktisch ist das Wachstum der Information kein kulturelles, sondern ein physikalisches Phänomen, auch wenn es dem zweiten Hauptsatz der Wärmelehre zu widersprechen scheint und bislang nur anekdotisch-empirisch beobachtet wurde (bei uns auf der Erde). Wir wissen nicht, wohin es führt, aber zwischenzeitliche kulturelle Veränderungen sind ziemlich sicher nicht endgültig.
Eigentlich, und natürlich nur eigentlich, ist es ja so: Die Suche nach der Wahrheit hat die Menschheit vorwärtsgebracht. Alles andere waren stets nur Randnotizen. Wir sollten weder vor desaströsen Zuständen, die die Digitalisierung fördert, die Augen verschliessen, noch sollten wir uns ihnen durch Verneinung der Digitalisierung entziehen. Vielmehr sollten wir die digitale Transformation aus der Suche nach der Wahrheit heraus gestalten.
Diese Dezemberausgabe 2018 wird sich vermutlich nur langsam füllen. Alle sind im Vorweihnachtsstress, die Januardepression steht bevor. Ich hoffe aber, geschätzte Leserinnen und Leser, dass Sie diese Ausgabe über die nächsten Wochen verfolgen werden: Digitalisierung und die Humanities, die gehören zusammen. Unsere Entscheidung ist, ob im Schlechten oder im Guten.
Herzlichst, Ihr Reinhard Riedl
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