Digitalisierte Pflegedokumentation: Denkt künftig der Computer für mich?
Klinische Pflegedokumentation ist Teil des pflegerischen Alltages, sei es zur Versorgungsplanung, zur Evaluation erreichter Erfolge oder für Qualitäts- und Abrechnungszwecke. Was dabei zu beachten ist, schreibt unser Autor Dirk Hunstein.
Man sollte meinen, dass mit zunehmender Digitalisierung die bisherige klinische Pflege(prozess)dokumentation ihren rein „Informationen verwahrenden“ Charakter verlöre und zu einer Verbesserung der pflegerischen Versorgung beitrage. Doch solange bestehende Papierformulare 1:1 in eine Software kopiert werden, ist nichts gewonnen. Die elektronische Umsetzung des Pflegeprozesses funktioniert eben nicht über Formulare, sondern über Datenmodelle.
Solche Datenmodelle, wie sie z. B. den pflegerischen Basisassessments der Methode epa (ergebnisorientiertes Pflege-Assessment) zu Grunde liegen, strukturieren Informationen und setzen diese in Prozesse um. Bei epa steht zu Beginn die klinische Entscheidungsfindung, also die Feststellung von Art und Schwere von gesundheitsrelevanten Fähigkeiten und Beeinträchtigungen von PatientInnen (Pflegediagnostik), danach folgen die daraus abgeleitete Ziel- und Massnahmenplanung sowie die abschliessende Evaluation der Wirksamkeit pflegerischen Handelns. Diese aus der pflegerischen Routinedokumentation gewonnenen Primärdaten können anschliessend als Kennzahlen für die fachliche, organisatorische und finanzielle Steuerung sowie für Zwecke der Versorgungsforschung eingesetzt werden und – dabei wird es richtig spannend – für Prognosemodelle genutzt werden.
Bevor hierfür einige Beispiele aufgeführt werden, zum Verständnis zunächst einige Erläuterungen zur Funktionsweise der Instrumente der Methode epa.
Wie epa funktioniert
Die Basisassessmentinstrumente epaAC (Acute Care), epaKIDS (Pediatric Care), epaPSYC (Psychiatric Care) und epaLTC (Long Term Care) der Methode epa sind das Ergebnis eines pflegewissenschaftlichen Praxisforschungsprojekts, das 2002 in den HSK Dr. Horst Schmidt Kliniken in Wiesbaden gestartet wurde. Seit 2007 wird die Methode von der ePA-CC GmbH kontinuierlich weiterentwickelt. Kern der Methode ist die Messung (funktionaler) Patientenfähigkeiten, wie z. B. die Fähigkeit, sich selbst zu kleiden, sich fortbewegen zu können, Informationen aufzunehmen und interpretieren zu können usw., aber auch psychosozialer Konzepte (z. B. Angst, Schmerz, Traurigkeit) sowie verschiedener Kontextinformationen (z. B. ob Ableitungssystemen für Urin oder Stuhl vorliegen usw.). Alle Informationen werden skaliert erhoben. Je nach Ausprägung seiner Fähigkeiten erhält der Patient pro Item 4, 3, 2 oder 1 Punkte, wobei 4 Punkte für den Normzustand „volle Fähigkeit“ und 1 Punkt für das Fehlen der entsprechenden Fähigkeit stehen.
Weil diese Daten im Rahmen der pflegerischen Routinedokumentation kontinuierlich anfallen, können – in Verbindung mit einer geeigneten Massnahmenklassifikation (95% aller Anwenderbetriebe arbeiten hier mit der Methode LEP) – auch Veränderungen sowie die Wirksamkeit des pflegerischen Handelns nachgewiesen werden.
Mit über 400 epa-Vertragsbetrieben im D-A-CH-Raum steht ein immenses Datenpotenzial zur Verfügung, um innovative Lösungen für die pflegerische Gesundheitsversorgung über alle Settings hinweg zu entwickeln bzw. bereitzustellen.
Nachfolgend werden einige Lösungsansätze skizziert, wie elektronische (Pflege-) Dokumentation in Verbindung mit künstlicher Intelligenz KI den klinischen Alltag erleichtern und die Patientenversorgung verbessern kann. Alle nachfolgend aufgeführten Beispiele sind schon heute umsetzbar.
Lösungsbeispiel geringer Komplexität
Automatisierte Massnahmenvorschläge: In allen elektronischen Dokumentationssystemen, in denen die Instrumente der Methode epa sowie LEP-Interventionen integriert sind (derzeit bieten 21 Softwarefirmen entsprechende Lösungen an), werden nach der Einschätzung der Patientenfähigkeiten automatisch nur noch jene Interventionen vorgeschlagen, die zum individuellen Patientenzustand passen; die Pflegefachperson muss nicht mehr aus dem gesamten Katalog auswählen. Dies erfolgt durch einfache fach- und sachlogische Verknüpfungen von Zustand (z. B. gering vorhandene Fähigkeit sich zu waschen) und dazu passenden Massnahmen, wie z. B. Unterstützung bei der Körperpflege. Bei diesem Beispiel steht das Thema effiziente Dokumentation im Vordergrund.
Lösungsbeispiel mittlerer Komplexität
Verbesserung der individuellen (pflegerischen) Versorgungsplanung durch automatische frühzeitige Risikoerkennung bei gleichzeitiger Vereinfachung der Dokumentation („selbstausfüllende“ Dokumentation): Durch die Verbindung von „Devices“ wie Lagesensoren, wie sie in jedem Smartphone oder jeder Smartwatch enthalten sind, kann erkannt werden, ob sich ein Patient im Bett ausreichend bewegt oder ob er ein erhöhtes Dekubitusrisiko aufweist. Ist dies nicht der Fall, erkennt die drucksensitive Matratze, dass der Patient soeben von der linken auf die rechte Seite gelagert wurde. Um welchen Patienten es sich dabei handelt, erkennt das System am Chip, der im Patienten-Identifikationsarmband enthalten ist. Die handelnde Person wiederum identifiziert sich über den Chip, der in ihr Namenschild eingebaut ist, so dass in der elektronischen Falldokumentation automatisch die richtige Handlung einschliesslich ihrer Dauer durch die richtige Person dem richtigen Patienten zugeordnet wird. Bei diesem Beispiel steht das Thema „Patientensicherheit“ im Vordergrund.
Lösungsbeispiele hoher Komplexität
Hierzu gehören Prognosemodelle, wie z. B. die Vorhersage der voraussichtlichen Entlassung in Verbindung mit dem voraussichtlichen Fähigkeitsprofil eines Patienten, um so früh wie möglich die passende erforderliche poststationäre Versorgung planen zu können. Aus dem Wissen über normale Genesungsverläufe können Hinweise auf mögliche Komplikationen gegeben werden, bevor sich eindeutige klinische Symptome zeigen, v. a. in Verbindung von Pflegedaten mit Biomarken oder Laborwerten (auf diesem Prinzip beruhen auch z. B. einige Krebsfrüherkennungsuntersuchungen oder HIV-Tests).
Weiter unterstützen Vorhersagen typischer Interventionen, die üblicherweise bei Patienten mit vergleichbaren Merkmalen erbracht werden. So lassen sich nicht nur noch genauere Vorschläge für individuelle Pflegeplanung geben, sondern es kann auch der Aufwand abgeschätzt werden und wie viel Personal gebraucht wird.
Aus Sicht der Versorgungsforschung ist interessant, dass mit den einheitlichen Datenmodellen von epa auch Setting-übergreifend Daten ausgewertet werden können. Wenn z. B. Herr Müller aus dem Langzeitbereich in die akutstationäre Versorgung, anschliessend in die Rehabilitation und danach wieder in den Langzeitbereich wechselt. Damit kann eine Einrichtung und Setting übergreifende massgeschneiderte Versorgung geplant und hinsichtlich ihres Erfolgs evaluiert werden. Bei diesen Beispielen steht die qualitativ hochwertige und effektive Gesundheitsversorgung im Vordergrund.
Herausforderungen und Ausblick
Alle Beispiele haben ein gewaltiges Missbrauchspotenzial gemeinsam: Wird künftig Fachexpertise durch künstliche Intelligenz ersetzt? Oder werden Patienten künftig nur noch dann behandelt, wenn eine ausreichende Rendite vorhergesagt werden kann?
Fest steht: Die Gesundheitsversorgung der Zukunft wird sich ändern. Wenn immer mehr Menschen von immer weniger Fachpersonen versorgt werden, müssen Lösungen gefunden werden. Digitalisierung kann hierbei helfen. Daher ist ein breiter und öffentlicher gesellschaftlicher Diskurs zu führen, der sich mit den Risiken und Konsequenzen aus der Nutzung von Gesundheitsdaten beschäftigt. Da dies aber kein abgegrenzter Prozess ist, der fortwährenden Änderungen unterliegt, hilft Abwarten nicht, bis ein Konsens erzielt ist. Vielmehr gilt es, digitale Lösungen nicht von vornherein zu blockieren, sondern ihre Einsatzmöglichkeiten konsequent weiterzuentwickeln, gleichzeitig aber kritisch zu hinterfragen und mögliche Konsequenzen abzuwägen.
Die Zukunft von Digitalisierung in der Pflege resp. der Gesundheitsversorgung sehe ich nicht in Robotik, sondern in Assistenzsystemen, die die klinische Entscheidungsfindung unterstützen, passgenauere Therapien vorschlagen und somit letztlich die Gesundheitsversorgung verbessern.
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