Braucht es «Code for Switzerland»?

Schaut man in die USA, kann man im E-Government zwei sehr konträre Beobachtungen machen: Auf der einen Seite sind da die Realität der Missstände in der Verwaltung verbunden mit den stets etwas schrägen Vorträgen der Spitzenforschenden, die über innovative Bibliotheken vortragen. Viele werden nun sagen: Klar, Google! Aber ich meine die Tatsache, dass zentrale Aufgaben der lokalen Verwaltung in den USA von Bibliotheken übernommen werden und dabei oft Freiwilligenarbeit im Spiel ist. Das wirkt von Europa aus betrachtet seltsam wie vieles im heutigen Amerika.

Auf der anderen Seite steht da das Freiwilligenprojekt «Code for America», in dem oft in kürzester Zeit Anwendungen für die Verwaltung entwickelt werden. Software-Lösungen, die der normalen Verwaltung Jahre und Millionen kosten würden, werden ohne Kosten in wenigen Wochen fertiggestellt und danach kontinuierlich weiterentwickelt, wie das für Dienste im Internet normal ist. Auch das wirkt seltsam. Manch ein Schweizer Verwaltungsjurist und manch ein IT-Unternehmer wird da zum Monarchen und fragt wie einst ein österreichischer Kaiser: «Dürfen die das?». Offensichtlich ja.

Die eigentliche Lehre aus der Geschichte des Silicon Valley

Die USA sind ein Vorbild in Sachen Forschungsförderung, auch weil sie kein Problem damit haben, dass die Privatwirtschaft die mit Steuergeld erzielten Resultate valorisiert und im Milliardenvermögen verwandelt. Sie sind aber in Sachen kommunaler Verwaltung alles andere als ein Vorbild. Nun aber demonstrieren sie, dass agile Entwicklung und stetige Verbesserung auch bei Verwaltungssoftware möglich sind und das E-Government-Lösungen zehn bis hundert Mal so schnell wie in der Schweiz in die Welt gestellt werden können.

Bei uns war bisher die Reaktion die ewig Gleiche: «Wir haben die beste Verwaltung der Welt (und wir müssen uns vom Schmuddelkind USA nichts zeigen lassen)!» Müssen wir auch wirklich nicht, könnten wir aber. Als ich noch ein junger frecher Student war (kurz vor dem Äquivalent zum heutigen Master-Diplom in Technischer Mathematik), hat man mir gelegentlich unverblümt gesagt: «Schau immer auf die, die besser sind als du, nie auf die, die schlechter sind als du!» Daran muss man sich nicht halten. Tatsächlich ist es sogar ziemlich frustrierend. Aber der Rat ist gar nicht so schlecht, wie er scheint, denn unser Blick steuert meist unsere Richtung. Unerfahrene Autofahrer lernen sicher durch die Kurve fahren, in dem sie auf den Kurvenausgang schauen. Schauen sie dagegen auf die Kurve, dann wird es kritisch. Wir könnten also beim Blick in die USA statt auf die vielerorts herrschende Misere der lokalen Verwaltung, einfach auf Code for America schauen. Vielleicht liesse sich Ähnliches auch in der Schweiz realisieren?

Damit soll der Schweizer IT-Industrie nicht das Wasser abgegraben werden. Zur Diskussion gestellt wird, ob so nicht die Innovation stimuliert und am Ende die Schweizer Software-Industrie sogar gestärkt werden könnte mit einer «Code for Switzerland» Organisation.

Nein? Das wäre nicht in Ordnung? Gut, diese Sicht ist nachvollziehbar. Aber es gibt da noch etwas, etwas Tieferliegendes nämlich, dass vielleicht schon einen Gedanken wert wäre: das Code for America zugrundeliegende philosophische Konzept von «Government as a Platform». Die Verwaltung, so die Essenz dieses auf Tim O’Reilly zurückgehenden Konzepts, sollte alle relevanten Akteure zusammenbringen, damit die gesellschaftlichen Probleme gelöst werden. Sie sollte die Voraussetzungen für die Lösung schaffen, nicht aber die Lösung selber. Ganz ähnlich wie einst die amerikanische Forschungsförderung die Voraussetzungen für das Entstehen des Silicon Valley geschaffen hat, das Entstehen selber dann aber von der Privatwirtschaft vorwärtsgetrieben wurde, getrieben durch unternehmerische statt durch staatliche Entscheidungen.

Übertragung auf die Situation in der Schweiz

Man muss ja nicht so weit gehen wie die Briten, die ihren Verwaltungsdesignprinzipien 2012 als zweites Prinzip «Do less!» definiert haben. Man kann ja gutschweizerisch das Prinzip umformulieren als «Tue das Wichtige zuerst und tue es vor allem richtig!» Das heisst: Versuche nicht die Amerikaner in der Geschwindigkeit der Software-Entwicklung zu toppen, sondern fokussiere dich darauf, das Essentielle mit 200-prozentiger Qualität zu liefern.

O je, werden manche sagen. Wir sind eh schon so langsam, und jetzt verlangt die Hochschule 200 Prozent! Doch dieses Entsetzen würde die Realität in der Schweiz verkennen: Es gibt (noch) keine konsequente Priorisierung in der Schweiz, nicht einmal einen Konsens, was denn wichtig wäre. Es gibt (noch) keine Strategie im Sinne Michael Porters, die einen Trade-off definiert. Und es wird im Schweizer E-Government (noch immer) bei den Grundlagen nicht genau auf Qualität geschaut. Man denkt in Abkürzungen, um schneller vorwärts zu kommen, und das Ergebnis ist, dass es in der Summe sehr viel langsamer vorwärtsgeht, als mit einer 200-prozentigen Qualität beim Wesentlichen.

Würde man dagegen die Schweizer Verwaltung als Plattform für die Lösung gesellschaftlicher Probleme verstehen, das heisst natürlich als exzellente und weltbeste Plattform, dann fänden die 200 Prozent Qualität beim Bauen des Fundaments eine viel breitere Akzeptanz. Die Verwaltung müsste sich nicht in die ihr fremden Gefilde der IT-Lösungsentwicklung vorwagen und die IT-Lösungsanbieter würden zwar höhere Konkurrenz haben, dafür aber ihre Lösungen auf viel stabileren technischen, organisatorischen und politischen Fundamenten aufsetzen können. Ein Nebeneffekt wäre die schweizweite Professionalisierung des E-Government. Denn durch eine gute Plattform fliesst viel Wissen, und das Wissen führt zu höherer Effizienz, Effektivität und Qualität der Arbeit – und das alles zusammen ist ein Synonym für Professionalisierung.

Ein Code for Switzerland wäre vielleicht cool, aber vielleicht auch zu anarchistisch. Was wir benötigen ist eine gutschweizerische Realisierung des in den USA erfundenen Prinzips «Government as a Platform»! Das Wissen muss schneller und breiter fliessen. Denn Reichtum entsteht durch Wissensfluss.

Creative Commons Licence

AUTHOR: Reinhard Riedl

Prof. Dr. Reinhard Riedl ist Dozent am Institut Digital Technology Management der BFH Wirtschaft. Er engagiert sich in vielen Organisationen und ist u.a. Vizepräsident des Schweizer E-Government Symposium sowie Mitglied des Steuerungsausschuss von TA-Swiss. Zudem ist er u.a. Vorstandsmitglied von eJustice.ch, Praevenire - Verein zur Optimierung der solidarischen Gesundheitsversorgung (Österreich) und All-acad.com.

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Schaut man in die USA, kann man im E-Government zwei sehr konträre Beobachtungen machen: Auf der einen Seite sind da die Realität der Missstände in der Verwaltung verbunden mit den stets etwas schrägen Vorträgen der Spitzenforschenden, die über innovative Bibliotheken vortragen. Viele werden nun sagen: Klar, Google! Aber ich meine die Tatsache, dass zentrale Aufgaben der lokalen Verwaltung in den USA von Bibliotheken übernommen werden und dabei oft Freiwilligenarbeit im Spiel ist. Das wirkt von Europa aus betrachtet seltsam wie vieles im heutigen Amerika.

Auf der anderen Seite steht da das Freiwilligenprojekt «Code for America», in dem oft in kürzester Zeit Anwendungen für die Verwaltung entwickelt werden. Software-Lösungen, die der normalen Verwaltung Jahre und Millionen kosten würden, werden ohne Kosten in wenigen Wochen fertiggestellt und danach kontinuierlich weiterentwickelt, wie das für Dienste im Internet normal ist. Auch das wirkt seltsam. Manch ein Schweizer Verwaltungsjurist und manch ein IT-Unternehmer wird da zum Monarchen und fragt wie einst ein österreichischer Kaiser: «Dürfen die das?». Offensichtlich ja.

Die eigentliche Lehre aus der Geschichte des Silicon Valley

Die USA sind ein Vorbild in Sachen Forschungsförderung, auch weil sie kein Problem damit haben, dass die Privatwirtschaft die mit Steuergeld erzielten Resultate valorisiert und im Milliardenvermögen verwandelt. Sie sind aber in Sachen kommunaler Verwaltung alles andere als ein Vorbild. Nun aber demonstrieren sie, dass agile Entwicklung und stetige Verbesserung auch bei Verwaltungssoftware möglich sind und das E-Government-Lösungen zehn bis hundert Mal so schnell wie in der Schweiz in die Welt gestellt werden können.

Bei uns war bisher die Reaktion die ewig Gleiche: «Wir haben die beste Verwaltung der Welt (und wir müssen uns vom Schmuddelkind USA nichts zeigen lassen)!» Müssen wir auch wirklich nicht, könnten wir aber. Als ich noch ein junger frecher Student war (kurz vor dem Äquivalent zum heutigen Master-Diplom in Technischer Mathematik), hat man mir gelegentlich unverblümt gesagt: «Schau immer auf die, die besser sind als du, nie auf die, die schlechter sind als du!» Daran muss man sich nicht halten. Tatsächlich ist es sogar ziemlich frustrierend. Aber der Rat ist gar nicht so schlecht, wie er scheint, denn unser Blick steuert meist unsere Richtung. Unerfahrene Autofahrer lernen sicher durch die Kurve fahren, in dem sie auf den Kurvenausgang schauen. Schauen sie dagegen auf die Kurve, dann wird es kritisch. Wir könnten also beim Blick in die USA statt auf die vielerorts herrschende Misere der lokalen Verwaltung, einfach auf Code for America schauen. Vielleicht liesse sich Ähnliches auch in der Schweiz realisieren?

Damit soll der Schweizer IT-Industrie nicht das Wasser abgegraben werden. Zur Diskussion gestellt wird, ob so nicht die Innovation stimuliert und am Ende die Schweizer Software-Industrie sogar gestärkt werden könnte mit einer «Code for Switzerland» Organisation.

Nein? Das wäre nicht in Ordnung? Gut, diese Sicht ist nachvollziehbar. Aber es gibt da noch etwas, etwas Tieferliegendes nämlich, dass vielleicht schon einen Gedanken wert wäre: das Code for America zugrundeliegende philosophische Konzept von «Government as a Platform». Die Verwaltung, so die Essenz dieses auf Tim O’Reilly zurückgehenden Konzepts, sollte alle relevanten Akteure zusammenbringen, damit die gesellschaftlichen Probleme gelöst werden. Sie sollte die Voraussetzungen für die Lösung schaffen, nicht aber die Lösung selber. Ganz ähnlich wie einst die amerikanische Forschungsförderung die Voraussetzungen für das Entstehen des Silicon Valley geschaffen hat, das Entstehen selber dann aber von der Privatwirtschaft vorwärtsgetrieben wurde, getrieben durch unternehmerische statt durch staatliche Entscheidungen.

Übertragung auf die Situation in der Schweiz

Man muss ja nicht so weit gehen wie die Briten, die ihren Verwaltungsdesignprinzipien 2012 als zweites Prinzip «Do less!» definiert haben. Man kann ja gutschweizerisch das Prinzip umformulieren als «Tue das Wichtige zuerst und tue es vor allem richtig!» Das heisst: Versuche nicht die Amerikaner in der Geschwindigkeit der Software-Entwicklung zu toppen, sondern fokussiere dich darauf, das Essentielle mit 200-prozentiger Qualität zu liefern.

O je, werden manche sagen. Wir sind eh schon so langsam, und jetzt verlangt die Hochschule 200 Prozent! Doch dieses Entsetzen würde die Realität in der Schweiz verkennen: Es gibt (noch) keine konsequente Priorisierung in der Schweiz, nicht einmal einen Konsens, was denn wichtig wäre. Es gibt (noch) keine Strategie im Sinne Michael Porters, die einen Trade-off definiert. Und es wird im Schweizer E-Government (noch immer) bei den Grundlagen nicht genau auf Qualität geschaut. Man denkt in Abkürzungen, um schneller vorwärts zu kommen, und das Ergebnis ist, dass es in der Summe sehr viel langsamer vorwärtsgeht, als mit einer 200-prozentigen Qualität beim Wesentlichen.

Würde man dagegen die Schweizer Verwaltung als Plattform für die Lösung gesellschaftlicher Probleme verstehen, das heisst natürlich als exzellente und weltbeste Plattform, dann fänden die 200 Prozent Qualität beim Bauen des Fundaments eine viel breitere Akzeptanz. Die Verwaltung müsste sich nicht in die ihr fremden Gefilde der IT-Lösungsentwicklung vorwagen und die IT-Lösungsanbieter würden zwar höhere Konkurrenz haben, dafür aber ihre Lösungen auf viel stabileren technischen, organisatorischen und politischen Fundamenten aufsetzen können. Ein Nebeneffekt wäre die schweizweite Professionalisierung des E-Government. Denn durch eine gute Plattform fliesst viel Wissen, und das Wissen führt zu höherer Effizienz, Effektivität und Qualität der Arbeit – und das alles zusammen ist ein Synonym für Professionalisierung.

Ein Code for Switzerland wäre vielleicht cool, aber vielleicht auch zu anarchistisch. Was wir benötigen ist eine gutschweizerische Realisierung des in den USA erfundenen Prinzips «Government as a Platform»! Das Wissen muss schneller und breiter fliessen. Denn Reichtum entsteht durch Wissensfluss.

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AUTHOR: Reinhard Riedl

Prof. Dr. Reinhard Riedl ist Dozent am Institut Digital Technology Management der BFH Wirtschaft. Er engagiert sich in vielen Organisationen und ist u.a. Vizepräsident des Schweizer E-Government Symposium sowie Mitglied des Steuerungsausschuss von TA-Swiss. Zudem ist er u.a. Vorstandsmitglied von eJustice.ch, Praevenire - Verein zur Optimierung der solidarischen Gesundheitsversorgung (Österreich) und All-acad.com.

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