Unsere Verwaltungsabläufe sind so gut wie deutsche Dieselmotoren umweltfreundlich sind
Warum schneidet die Schweiz in internationalen E-Government-Rankings so schlecht ab? Wo sind andere weiter?
Andere Länder investieren wesentlich mehr in Fachexpertise und Weiterbildung. Einige haben Topteams aufgebaut und gleichzeitig Wissen in der Verwaltung breit verankert. Ausserdem praktizieren sie neben dem regelmässigen Fachaustausch einen ernsthaften Diskurs über die richtige Architektur der Lösungen. Deshalb können sie strategisch sinnvoller und ganzheitlicher an die Innovationen herangehen. Das wirkt sich insbesondere bei der digitalen Integration der Verwaltung aus, beispielweise bei der Reduktion der Registerlandschaft auf drei Kernregister, aus. Und es hilft beim Aufbau der Infrastruktur für die digitale Wirtschaft, beispielsweise beim digitalen Grenzabbau und dem Schutz der Konsumenten. Nebenbei werden Staaten mit Digitalisierungsexpertise in der Verwaltung die nationale Autonomie politischen Entscheidens besser wahren können, beispielsweise wenn diese von den Giganten der Sharing Economy angegriffen wird.
Wie erklären Sie sich den aktuellen Wissensrückstand angesichts der Tatsache, dass die Schweiz gleichzeitig als eines der innovativsten Länder gilt, hervorragende Hochschul- und Forschungsinstitutionen hat und dazu eine Bevölkerung, die (wenn man auch hier internationalen Vergleichen glauben will) Internet fleissiger nutzt als ihre Nachbarn?
Das liegt einerseits an der Schweizer E-Government-Kultur mit ihren Mythen und Märchen, anderseits an der veränderten Rolle der Schweizer Elitehochschulen. Zur E-Government-Kultur in der Schweiz gehört, dass so getan wird als ob Innovationen weder finanzielle Investitionen noch zusätzliches Wissen verlangen. Zudem wird auf den transformativen Charakter der Digitalisierung nicht im Geringsten eingegangen. Dem könnten nur Elitehochschulen widersprechen. Doch deren Rolle hat sich stark verändert, so dass für sie nur mehr Publikationsexzellenz zählt und deshalb Professoren nicht mehr für einen exzellenten Wissenstransfer in die politische Praxis zur Verfügung stehen. Sie schreiben bestenfalls noch White Papers, die dann dafür sorgen, dass ein Thema ganz tot ist, weil es ja bereits «gewhitepapert» wurde. Ergebnis: Das Innovationsland Schweiz leistet sich im E-Government den Langsamfortschritt.
Hat es, im Fall von E-Government, vielleicht damit zu tun, dass unsere Verwaltungsabläufe bereits im analogen Hier und Jetzt so gut sind, dass es nicht viel zu verbessern, aber unter Umständen viel zu verschlechtern gibt?
Nein. Unsere Abläufe sind so gut wie deutsche Dieselmotoren umweltfreundlich sind. Das heisst, aus Sicht des 20. Jahrhunderts sind unsere Ablaufstrukturen sehr gut. Aus Sicht der Technologie der Gegenwart nutzen wir dagegen viele Freiräume zur besseren Organisation nicht und verzichten obendrein auf den Grossteil der möglichen Automatisierungen. Und das, obwohl wir wissen, dass Algorithmen häufig bessere Entscheider sind als Menschen und uns viel Arbeit sehr gut abnehmen können. Der Mensch ist nur dort dem Algorithmus überlegen, wo es offene Kontexte gibt, wo es um direkte Interaktionen mit anderen Menschen geht oder wo Kreativität entscheidend ist. Wir sollten die menschliche Arbeit in der Verwaltung deshalb darauf ausrichten, dass in komplexen, widersprüchlichen Situationen vernünftige Entscheidungen getroffen werden, und Kreativität dort eingesetzt wird, wo sture Bürokratie scheitert oder komplexe politische Geschäfte vorbereitet werden müssen. Dafür braucht es aber Verwaltungsmitarbeitende, die das Potenzial der IT verstehen und nutzen.
Wie sieht das im Fall E-Voting aus? Ist hier das Hindernis, dass wir bereits in der «besten aller direkten Demokratien» leben?
Hier fehlt tatsächlich der Leidensdruck. Die Schweizer Demokratie funktioniert effektiv heute super. Und wir könnten uns glücklich zurücklehnen, wenn nicht gerade aus der Schweizer IT-Szene immer lauter der traditionelle Staat angegriffen würde, und zwar Verwaltung und demokratische Prozesse. Die Schweizer Innovationskraft wird eben nicht zur Verbesserung des Existierenden verwendet, sondern zum Forschen nach alternativen Lösungen für Legislative und Exekutive. Blockchains sollen staatliche Register und andere hoheitliche Aufgaben ersetzen und das Wählen völlig neu organisieren. Darüber hinaus werden in der Forschung derzeit Kapitalismus, Demokratie und Sozialismus neu gedacht. Das ist sehr animierend, bringt uns auch wirklich weiter, aber es ist oft auch blauäugig. Im Fall einer praktischen Umsetzung kann es entweder nutzlos Ressourcen vergeuden oder im Gegenteil ziemlich gefährlich werden, wenn die traditionellen staatswissenschaftlichen und ökonomischen Perspektiven aussen vor bleiben, so wie das derzeit der Fall ist. Eine neue Wissenschaft ohne altes Wissen läuft stark Gefahr, den Realitätsbezug zu verlieren.
Was könnte uns eine digitale Demokratie bringen, was wir nicht schon haben?
Die Zukunft lässt sich aus heutiger Sicht simpel beschreiben: Immer mehr Bedarf nach kurzfristigen Demokratie-Events mit hoher Erlebnisqualität und immer weniger Gestaltungsmacht für politische Entscheider aufgrund globaler Abhängigkeiten. Das kann auf Dauer nicht gut gehen. Deshalb könnten in Zukunft authentische Demokratiesimulationen eine Schlüsselrolle spielen. Statt der häufig scheiternden digitalen Partizipationsprojekte könnten Simulationsexperimente das Bedürfnis nach Demokratieerfahrungen abdecken und würden obendrein viel bessere Chancen für Bottom-up-Ideen bieten: Findet eine solche Idee in der Simulation hohe Zustimmung, so werden die traditionellen politischen Institutionen klug genug sein, sie praktisch umzusetzen. Damit wird der Policy Cycle für Ideen weit geöffnet, ohne dass seine stabilisierende Kraft untergraben wird. Und das wäre neu.
Nochmals praxisnah nachgefragt: Was wären denn die Vorteile von E-Government ? Geht es eher um Effizienz oder um Bürgernähe und eine neue Auffassung von Partizpation?
Ja, ja und ja – um alle drei. Plus um höhere Qualität bei den Sachentscheiden und um ein besseres Zuarbeiten für Parlament und Regierung. Aber ganz grundsätzlich geht es um die zukünftige Stabilität des Schweizer Staats. Wenn wir die alten Prinzipien wie Subsidiarität bewahren wollen, müssen wir sie neu interpretieren und das Wesentliche von dem trennen, was einst mit alten Technologien nicht anders gemacht werden konnte. Wenn wir der wachsenden Komplexität der Verwaltungsaufgaben Herr bleiben wollen, genügt es nicht, überflüssige Normen zu entsorgen. Wir müssen auch die Arbeitsausführung in grossen Schritten optimieren und die Partizipation konsequent integrieren, in die Weiterentwicklung wie in die Ausführung. Und nicht zuletzt: Wenn die Verwaltung für jüngere Menschen ein attraktiver Arbeitgeber bleiben will, müssen wir innerhalb der Verwaltung eine neue User-Experience schaffen und mehr coole Kognitionswerkzeuge einführen.
Warum kommt die Swiss-ID nicht vom Fleck? Ist sie, wie böse Zungen sagen, angesichts der Blockchain heute technisch bereits veraltet?
Oje. Das ist eine Frage für Geisterseher wie Dr. Siri Paboun. Im Ernst: Alain Sandoz von der Uni Neuchâtel hat vor Jahren vorgeschlagen, als strategische Massnahme der Verwaltung die gesamte Datenhaltung wegzunehmen. Im Fall von Blockchains als Technologielösung für diese Idee sind aber noch viele sehr kritische Fragen offen, sowohl im Technischen als auch in Bezug auf die Frage, wer was steuert. Deshalb ist das derzeit noch keine Umsetzungsoption. Der Vorschlag für ein E-ID-Gesetz des Bundesamts für Justiz wäre eigentlich gut, wenn er nicht so schräge Ideen wie die Einführung eines eID-Roamings mit im Gepäck führen würde. Was wir benötigen ist ein klitzekleines bisschen volkswirtschaftliche Expertise. Das heisst in diesem Fall, dass wir die E-ID ähnlich wie eine Plattform betrachten und nach Geschäftsmodellen für das ganze E-ID-Ökosystem suchen, statt einzelne Funktionen separat zu betrachten. Dann käme man vermutlich zum Schluss, dass eine hoheitliche Lösung nicht nur staatspolitisch wichtig ist, sondern auch ökonomisch mindestens auf Zeit sinnvoll wäre.
Geht es mit E-Health und dem elektronischen Patientendossier vielleicht erst wirklich los, wenn endlich eine Generation von Digital Natives die Arztpraxen und Spitalleitungen übernommen haben wird?
Die Dänen haben nur bei einer Bevölkerungsgruppe Akzeptanzprobleme für die Digitalisierung des öffentlichen Sektors: ein Teil der unter 25-Jährigen verweigert sich. Das zeigt, dass sich die wirkliche Welt nicht an Mythen hält. Die Lösung der E-Health-Schwierigkeiten ist im Kern simpel: E-Health sollte zwar in Bezug auf die Datenintegration rund um den Patienten organisiert werden, nicht aber aus Nutzenperspektive. Der Qualitätsmassstab für E-Health-Lösungen ist, dass sie den Gesundheitsfachpersonen helfen, einen fachlich besseren Job zu machen. Wenn Ärzte dadurch keine besseren Ärzte werden, dann taugt eine Lösung nichts. Das gilt für alle involvierten Gesundheitsfachberufe. Wir müssen das Design an den Direktnutzenden ausrichten. Wenn es für diese guten Lösungen gäbe, so würde das zwar nicht sofort eine breite Akzeptanz entstehen lassen, doch es würde die Diskussion verändern. Dann würde man alle Verweigerer nämlich fragen können, ob sie wirklich für eine schlechtere Gesundheitsversorgung sind. Aber auch das wird nicht ausreichen. Danach wird es nämlich matchentscheidend sein, den betroffenen Fachpersonen glaubhaft die Angst nehmen, dass sie in Zukunft durch Algorithmen kontrolliert werden. Kontrollalgorithmen sollten ausschliesslich dazu verwendet werden, um die 1 bis 5 Prozent der schwarzen Schafe zu identifizieren, die unprofessionell arbeiten. Ansonsten sollten die Algorithmen primär den Fachpersonen dienen, ihnen eine tolle User Experience bieten und ihnen helfen, ihre Disziplin weiterzuentwickeln. Eigentlich ziemlich simpel, oder halten Sie meine Sicht für naiv?
Originalbeitrag auf asut.ch
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