Big Data ist eine ethische Entscheidung!

Der Einsatz von Big Data ist immer eine Frage nach dem großen Ganzen und erfordert im Gesundheitswesen den Blick über den Tellerrand hinaus. Denn bei allen Vorteilen, die Big Data mit sich bringt, erfordert das Thema auch ein proaktives Nachdenken über den Umgang mit den Daten, findet Prof. Reinhard Riedl, wissenschaftlicher Leiter des Fachbereichs Wirtschaft an der Berner Fachhochschule. So wird Big Data vor allem zu einer ethischen Herausforderung. Riedl stößt damit eine Diskussion an, die derzeit noch zu wenig Beachtung findet.

Bislang ist Datensicherheit das Thema Nr. 1
„In allen Gesprächen, die zu Big Data stattfinden, wird bei der Diskussion der Gefahren von Big Data der Fokus sehr stark auf den Bereich Datenschutz gelegt. Obwohl dies ein sehr wichtiger Aspekt ist, gibt es auch andere Fragen, die gestellt werden müssen“, führt Reinhard Riedl in das Thema ein. Denn einerseits ist die Nutzung von Big Data für Forschung und Praxis in der Medizin unverzichtbar, weil der Nutzen sehr hoch ist. Anderseits kann aber eine unprofessionelle Nutzung von Big Data schnell zu einem Albtraum werden. Nicht nur hinsichtlich einer möglichen Verletzung der Privatsphäre, sondern auch aufgrund der Situationen und Fragestellungen, mit denen Menschen plötzlich konfrontiert sein können.

„Ein System möglichst sicher zu gestalten ist heutzutage keine Herausforderung mehr, sondern eher eine Kostenfrage. Dies ist auch der Grund, warum das Thema der Datenhaltung und Datensicherheit an vielen Stellen so wenig beachtet wird. Oft fehlen einfach die nötigen finanziellen Mittel“, gibt Riedl zu. „Doch die weit wichtigere Frage ist eher philosophisch: Wie gehen wir mit den gewonnenen Daten und den damit verbundenen möglich gewordenen Vorhersagen richtig um?“

Dieser Aspekt findet in der Öffentlichkeit bislang kaum Beachtung. Denn mit der Nutzung von Big Data und den daraus entstehenden Möglichkeiten für Vorhersagen entstehen Fragestellungen psychischer und emotionaler Art, die den Arzt stärker in die Rolle des Psychologen versetzen. „Der behandelnde Arzt nimmt zunehmend die Rolle eines Beraters ein, der den Patienten bei seinen Entscheidungen emotional begleitet und psychisch stützt“, verdeutlicht Riedl das sensible Thema.

Der Patient wird selbstständiger
Dass der Patient generell mehr Entscheidungskraft übertragen bekommt, ist nur ein Teil der Geschichte. Dass er dabei nicht allein gelassen werden darf, eine ganz andere Seite der Medaille. „Die Erklärung der Datenlage gegenüber dem Patienten wird am Ende immer eine Einzelfallentscheidung des Arztes bleiben. Derzeit trifft der Arzt eine bewusste Entscheidung darüber, was er dem Patienten weitergibt oder nicht. Manchmal kann es schädlicher sein, den Patienten emotional mit Wissen zu belasten, als ihm dieses Wissen vorzuenthalten“, macht Riedl deutlich.

Doch was, wenn vor dem Hintergrund von Big Data Voraussagen für die kommenden 20 Jahre möglich werden? „Plötzlich ergibt sich eine viel bessere Informationslage“, so Riedl. „Wir sammeln eine Menge stochastisches Wissen und in vielen Lebensbereichen werden wir eine Regulierung brauchen, wie wir mit diesem Wissen umgehen wollen. Ein klassisches Beispiel ist der Versicherungsmarkt, wo ja heute schon teilweise personenbezogene Daten genutzt werden, um individuelle Risiken und Tarife für die Kunden zu berechnen“, verdeutlicht Riedl. „Auch Prämienverbilligungen werden oft für jene gewährt, die sich von Versicherungen überwachen lassen.“

Im Umkehrschluss bedeutet dies: Jeder ist für sein Schicksal selbst verantwortlich. „Wenn Menschen nur noch zu günstigen Konditionen versichert werden, wenn sie entsprechend gesund und risikoarm leben, was immer auch die Definition jeweils dafür sein mag, oder wenn sie abgestraft werden, wenn sie ungesund und riskant leben, „dann muss man regulieren, wie weit diese Diskriminierung gehen darf“, bringt Riedl es auf den Punkt und ergänzt: „Kein Mensch hat zu jedem einzelnen Zeitpunkt seines Lebens und in Bezug auf jeden Kontext eine positive Datenlage.“

Datendiskriminierung und Datenemanzipation
Datendiskriminierung ist ein neuer Terminus, auf den wir in Zukunft häufiger treffen werden. Doch noch beschäftigen sich zu wenige Arbeitsgruppen mit dieser Thematik. „Am Ende wird es eine politische Entscheidung darüber geben müssen, welches Wissen man berücksichtigt und welches nicht“, betont der Experte.

Er sieht aber auch Chancen für einen selbstbestimmten Umgang mit Daten. „In der Europäischen Datenschutzgrundverordnung gibt es den Artikel 20, der das Recht auf die Kopie und Weitergabe der einen selber betreffenden Daten in maschinenlesebarer Form regelt. „Damit kann ich meine Daten einer Plattform zur Verfügung stellen, die eine Nutzung für die medizinische Forschung unter kontrollierten Bedingungen ermöglicht“, führt Riedl aus. „Das Problem ist nur, dass wir Governance Regeln entwickeln müssen, die auch zukünftige Risiken und Konsequenzen mit berücksichtigen. Die Vorstellungen der digitalen Transformation sind bislang sehr konventionell. Was die Sache aber so schwierig macht, ist, dass Big Data Methoden, beispielsweise Maschinenlernen, so unglaublich wirkungsvoll sein können.“

„Es ist keine Option Big Data nicht zu nutzen, denn dies wäre unethisch.“ konstatiert Riedl. Dafür birgt die Datenauswertung zu große Vorteile für Medizin und Menschen. „Es ist aber auch unethisch, Big Data zu nutzen, ohne über die Folgen nachzudenken.“ Und: „Für uns als Lieferanten der Daten stellt sich die soziale Frage: Wie weit sind wir auf unsere Sicherheit bedacht, dass wir uns verweigern unsere Daten nutzbar zu machen? Natürlich können wir einseitig von den Daten anderer profitieren ohne sie von unseren Daten profitieren zu lassen, aber wenn zu viele so handeln profitiert niemand. Big Data stellt uns allen nichttriviale ethische Fragen. Auf die Herangehensweise kommt es an!“


Reinhard Riedl promovierter in Reiner Mathematik und hat in verschiedenen Disziplinen zu Fragen rund um das Design und die praktische Nutzung von Informatiklösungen geforscht. Heute leitet er das transdisziplinäre BFH-Forschungszentrum „Digital Society“, an dem Forscher aus über zehn Disziplinen und insgesamt sechs Fakultäten der Berner Fachhochschule zusammenarbeiten. 1995 – 2006 gab er Zürichs Zynischen Theaterindex heraus. Seit 2015 ist Präsident der Internationalen Gesellschaft für Neue Musik Bern.

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AUTHOR: Marcel Rasch

PR & Online Communication bei European Hospital

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