Über die Lerngeschwindigkeit beim E-Government
Wir besuchen gerne andere Länder, um von ihnen zu lernen – oder wir laden deren Vertreter zu uns ein. Oft spielen wir auch Gastgeber für Delegationen anderer Länder, die in der Schweiz die halbdirekte Demokratie verstehen lernen wollen. Das Problem ist nur: es wird dabei nichts gelernt ‑ ganz im Gegenteil.
Dabei gibt es durchaus grossen Bedarf, von anderen zu lernen. Der neu in der Bundesverwaltung eingeführte, gut besuchte E-Government-Round-Table demonstriert diesen Bedarf. Gleiches gilt für den klar formulierten Wunsch, dass die neue Digitalisierungsplattform im Eidgenössischen Finanzdepartement dazu dienen soll, dass man bei einem neuen Vorhaben andere Akteure findet, die schon ein ähnliches Vorhaben durchgeführt haben.
Scheinbar ist es ganz ähnlich mit dem Lernen von anderen Ländern, aber nur scheinbar. Während innerhalb der Bundesverwaltung sehr ernsthaft das Wissenteilen vorangetrieben wird, und gleiches auch für einige Kantonsverwaltungen gilt, wird beim Lernen von anderen Ländern reflexhaft die Handbremse angezogen und darüber diskutiert, wie anders die anderen sind. Das ist nicht nur in der Schweiz so, sondern europaweit .
Halbdirekte Demokratie
Wer aus einer repräsentativen Demokratie stammt und hier zum ersten Mal hört, wie die Schweiz ihre halbdirekte Demokratie lebt, der reist meist mit der Überzeugung nach Hause, dass er das ganz sicher nicht will. ‑ Zu Langwierig, zu aufwendig. ‑ Obwohl eine ökonomische Studie belegt, dass direktdemokratische Instrumente das Wachstum fördern, halten viele Gäste die Schweizer Demokratie für einen Luxus-Spleen: nur sehr reiche Ländern könnten sich ein so komplexes politisches System wie die Schweiz leisten, sagen sie dann. Und viel zu langsam sei das für ein Land wie das ihre.
Erste Nationale Konferenz «Digitale Schweiz»
An der ersten nationalen Konferenz «Digitale Schweiz» am 20.11.2017 in Biel stellte Taavi Kotka , der frühere CIO Estlands, die Digitalisierung der Verwaltung seines Heimatlandes als Lernbeispiel vor. Das anschliessende Podium stand leider weitgehend unter dem impliziten Motto, wir wollen von denen nichts lernen. Unter anderem, weil das bei uns alles viel schwieriger ist und wir sowieso meist die weltweit Besten sind, beispielsweise in der nichtdigitalen Innovation und im e-Voting.
Interessant war dann auch, was nicht gesagt wurde. Obwohl Taavi Kotka erläuterte, dass in Estland jeder Einwohner eine Nummer hat und das keine Probleme verursacht, kam die AHV Nummer bei den Podiumsgästen als einheitlicher Personenidentifikator überhaupt nicht zur Sprache. Ob das daran lag, dass man nicht von Estland lernen will oder daran, dass man einen einheitlichen Personenidentifikator auch weiterhin verhindern will, konnte aufgrund fehlender Diskussion nicht beurteilt werden. Im Laufe der Veranstaltung wurde das Bild zwar an einigen Stellen revidiert – der Chef des ISB (https://www.isb.admin.ch/isb/de/home/das-isb/der-delegierte.html), Peter Fischer, bezog sich im Workshop Service Public beim Thema Datenhaltung auf das Vorbild Estland – aber das Lernen von anderen blieb trotzdem ein Minderheitenprogramm.
11. Schweizer E-Government Symposium Bern
Eine Woche davor hatte der österreichische CIO Reinhard Posch am 11. Schweizer E-Government Symposium die Reaktionen auf Vorbilder ganz offensichtlich antizipiert: Er sprach primär darüber, wie schwierig die Umsetzung des Only-Once-Prinzips ist. Erinnerungen an den früheren österreichischen Bundeskanzler Fred Sinowatz wurden wach, der berühmt war für seinen Spruch „Das ist alles sehr schwierig.“ Doch während man Sinowatz einst diese Aussage negativ ankreidete, findet heute die Aussage beim Thema Digitalisierung breite Zustimmung. Mindestens beim Staat, so meinen viele, dürfe man nichts überstürzen, weil es kein Wissen gäbe und die Erfahrungen der anderen nicht übertragbar wären.
Alte Disziplinen sind anders
Das wirft die Frage auf, warum E-Government so total anders ist als beispielsweise die Jahrtausende alte Disziplin «Architektur». In der Architektur ist es normal, von den Leistungen anderer zu lernen, auch wenn diese im Ausland gewirkt haben. Im E-Government und im politischen Kontext ist es hingegen offensichtlich fast unmöglich. Warum ist das so? Ich weiss es nicht.
In meinen ersten beiden Fächern, der technischen und der reinen Mathematik, gehört das Lernen von anderen zum Alltag. Man lernt dort durch das Lesen von Beweisen. Die Qualität eines Mathematikers zeigt sich unter anderem daran, wie schnell er die Ideen eines Spezialfelds erlernt: was der eine in einem Monat schafft, schafft der andere in einem halben Jahr und wieder ein anderer in drei Jahren – und viele schaffen es nie. Niemand käme aber auf die Idee, existierende Leistungen zu ignorieren – ausgenommen sie oder er erfindet ein Gebiet völlig neu. Das kommt im Einzelfall sogar zwei Mal im Leben vor. Davor, dazwischen und danach lernt man immer wieder von anderen aus dem simplen Grund, weil dies schneller ist. Und gerade für die Besten ist Geschwindigkeit ein entscheidender Faktor auf dem Weg zum Ruhm.
Beschleunigung statt Geschwindigkeit
Im E-Government dagegen zählt häufig nicht die Geschwindigkeit, sondern die Beschleunigung. Und beschleunigt wird, in dem man das existierende Fachwissen ignoriert. Die Folge davon ist, dass Projekte ein Vielfaches kosten von dem was notwendig wäre, wenn das vorhandene Wissen genützt würde. Das wäre nicht weiter schlimm, wenn jede Erfindung auf diese Weise fünf oder zehn Mal gemacht würde. Leider sind es vor allem die Fehler, die oft wiederholt werden. Die wenigen Ausnahmen sind jene, bei denen sichergestellt ist, dass alle «demselben Club» angehören, beispielsweise wie zu Beginn dargestellt der Bundesverwaltung oder der Verwaltung eines Kantons.
Wenn man das Vorgehen im E-Government mit der internationalen Diskussion um neue Formen der halbdirekten Demokratie vergleicht, so fällt eine Analogie ins Auge. So wie in der Schweiz im E-Government zur Beschleunigung Fachexpertise ausgelassen wird, so wird im Ausland in der Politik zur Beschleunigung das Begründen und Ausverhandeln ausgelassen. Man macht schnell vorwärts und merkt gar nicht, dass man genau deshalb so spät ankommt: die Schweiz im E-Government, das Ausland oft in der Politik.
Der grosse Unterschied
Was vermutlich nicht auf den ersten Blick auffällt: Es gibt zwischen E-Government und der Politik einen wesentlichen Unterschied: E-Government verlangt 80% Fachexpertise und 20% gutes politisches Entscheiden, während die Politik zu 80% vom guten politischen Entscheiden abhängt und nur zu 20% von der Integration von Fachwissen. Darum ist zwar der politische Prozess im E-Government auch wichtig, aber wichtiger ist die durch Lernen erworbene Fachexpertise.
Die Veränderung des Spiels
Deshalb scheint mir der Königsweg zu sein, zuerst die Beispiele erfolgreichen Wissensaustausches zu stärken und möglichst oft in ähnlichen Kontexten zu replizieren. Und danach ganz sanft in den internen Wissensaustausch Beispiele aus dem Ausland in den internen Wissensaustausch einzufügen. Und dabei möglichst auf alle Arten von Paneldiskutieren zu verzichten, ob man denn von den anderen lernen könne. Ganz nach dem Motto: praktizieren statt diskutieren. Die Erfahrung damit ist noch nicht gross, aber ermutigend.
Die Veränderung beginnt meist ungeplant und zufällig. Sie lässt nicht messen, nur gestalten. Oder wie es der Science-Fiction-Autor William Gibson formulierte: «Die Zukunft ist schon da, sie ist nur ungleich verteilt».
Wenn Sie die Dezember-2017-Ausgabe von Societybyte lesen, zählen Sie vermutlich zu denen, die von anderen lernen wollen – und bei allen Schwierigkeiten die Probleme im E-Government für lösbar halten. Ich wünsche Ihnen deshalb eine erkenntnisreiche Lektüre, Ihr Reinhard Riedl
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