Patienten können ihre Daten smart nutzen

Das Gesundheitswesen der Zukunft wird digitaler und technischer. Für die Patientinnen und Patienten eröffnen sich dank einfachem Datentransfer auch neue Möglichkeiten. Über dieses Themengebiet hat unsere Autorin mit Prof. Dr. Elske Ammenwerth von der Universität für Gesundheitswissenschaften, Medizinische Informatik und Technik in Hall (Tirol) unterhalten.

Sie haben diesen Herbst die Konferenz mit dem Motto „Wie viel Technik braucht die Pflege“ organisiert. Daher lautet meine erste Frage an Sie: wie viel Technik braucht das Gesundheitswesen und ganz speziell die Beziehung zwischen einer Gesundheitsfachperson und einem/einer Patient/in?

Die Digitalisierung des Gesundheitswesens ist nicht mehr aufzuhalten – und das ist gut so! Intelligente IT-Lösungen können helfen, die Qualität und Effizienz im Gesundheitswesen zu verbessern. Das Gesundheitswesen hinkt im Vergleich zu vielen anderen Branchen hier hinterher, was die IT-Durchdringung angeht. Das muss sich ändern, und das wird sich ändern. In Österreich, der Schweiz und in Deutschland sind wir dabei auf einem guten Weg – aber viel bleibt noch zu tun.

Prof. Dr. Elske Ammenwerth

Durch die Digitalisierung wird sich dabei auch die Beziehung zwischen der Gesundheitsfachperson und dem Patienten ändern. Ein Beispiel: Liegen patientenbezogene Informationen z.B. in Form einer elektronischen Patientenakte digital vor, kann der Patient viel einfacher darauf zugreifen, Informationen überprüfen, bei Unklarheiten nachfragen, oder auch Informationen ergänzen. Das ist viel einfacher als früher im Papierzeitalter! So werden ja in vielen Ländern jetzt auch Patientenportale entwickelt, die dem Patienten ermöglichen, eigenständig auf Inhalte seiner elektronischen Patientenakte zuzugreifen. Dies wird die Rolle des Patienten stärken – das oft verwendete Stichwort hier ist „Patient Empowerment“.

Sie sagen das Konferenzmotto sei provokant. Was ist daran provokant?

Na ja, es ist provokant, weil da die Frage mitschwingt, ob es ein „zu viel“ an Technik, an Digitalisierung gibt. Denn auch wenn ich ein klarer Befürworter der Digitalisierung der Prozesse im Gesundheitswesen bin: Dies darf nie dazu führen, dass wir uns von der Technik abhängig machen und die Intuition und die persönliche Beziehung zwischen Menschen ersetzen. Ich fände es furchtbar, wenn ich als Patient in einem Krankenhaus nur noch Pflegepersonen und Ärzte treffe, die in ein Tablet schauen, statt mit mir zu reden. Oder wenn klinische Entscheidungen nur noch auf Grundlagen von Algorithmen oder aufgrund von statistischen Modellen getroffen werden. Hier müssen wir als Medizinische Informatikerinnen und Informatiker immer aufmerksam sein – ein gutes Gesundheitswesen muss beides sein: modern und menschlich. Die Technik ist ohne den Menschen nicht viel wert.

Ein viel diskutiertes Thema der ENI 2017 war die sekundäre Datennutzung von Patientendaten, oder auch als Big Data gehandelt. Ass.-Prof. Dr. Werner Hackl, UMIT Hall, verwendete für die klinische Realität von Big Data das Zitat von Dan Ariely, Prof. für Psychologie und Verhaltensökonomik an der Duke University, USA: „Mit Big Data ist es wie mit Sex im Teenager-Alter: Jeder spricht darüber. Keiner weiss wirklich, wie es geht. Alle denken, dass die anderen es tun, also behauptet jeder, dass er es auch tut.“ Was läuft falsch und was sollte bei der Nutzung sekundärer Daten im klinischen Alltag geändert werden?

Wie so oft ist auch bei „Big Data“ zu beobachten, dass durch geschicktes Marketing und einen prägnanten Slogan ein Hype erzeugt wird, welcher aus meiner Sicht zu hohe Erwartungen schürt. Wie Werner Hackl gesagt hat: Jeder meint, er muss dabei sein. Das gilt für die Industrie, die Gesundheitseinrichtungen, aber auch die Forschung.

Die sekundäre Datennutzung kann nur funktionieren, wenn viele Voraussetzungen erfüllt sind, die wie Bausteine ineinandergreifen. So müssen wir zunächst qualitativ hochwertige und möglichst standardisierte Primärdaten zur Verfügung haben. Dies ist doch oft gar nicht gegeben! Große Teile der Dokumentation erfolgen immer noch auf Papier und sind daher gar nicht auswertbar. Und die elektronische Dokumentation ist oft lückenhaft, wenig aussagekräftig da zu stark standardisiert (oder zu wenig standardisiert) und daher von geringer Qualität.

Für die sekundäre Datennutzung brauchen wir also ein klares Bild der Qualität und Quantität der vorhandenen Daten in unseren Informationssystemen – und das ist schon schwierig. Welches Krankenhaus kann ad hoc sagen, welche Daten und Datentypen es in seinen oft über 100 Anwendungen einsetzt? Wenn man also Primärdaten als Datenschatz versteht, muss man wohl – um im Bild zu bleiben – sich vorstellen, dass dieser Schatz noch in der Erde steckt – und zwar nicht in einer Kiste, sondern als einzelne Edelsteinbrocken in der Erde verteilt. Das macht deutlich, wie schwierig das „Heben“ dieses Schatzes ist.

Ein anderer Aspekt ist, dass Einrichtungen oft ja gar nicht wissen, was sie eigentlich mit ihren Primärdaten machen wollen. Wenn man z.B. eine Pflegedirektorin fragt, was sie denn jetzt genau wissen möchte, kommt ein Achselzucken. Sekundäre Datennutzung funktioniert aber nur, wenn ich eine einigermaßen klare Vorstellung davon besitze, was ich denn überhaupt an Fragestellungen habe – Fragen aus der Sicht des Managements, der Qualitätssicherung, der Patientensicherheit, der Forschung? Das sollte ich mir vorher überlegen, bevor ich zu „graben“ anfange – sonst weiss ich ja nicht, wonach ich buddeln soll.

Was sind Schlüsselmerkmale einer erfolgreichen sekundären Datennutzung? Wer profitiert davon?

Werner Hackl hat gerade in seinem lesenswerten Artikel „PRECISE DATA STATT BIG DATA“ für die eHealth.com diese Schlüsselmerkmale für erfolgreiche sekundäre Datennutzung skizziert: Hierzu gehört, zunächst einmal eine klare Fragestellung zu definieren, die ich beantwortet haben möchte. Dann wähle ich die Datenquellen aus meinen Informationssystemen aus, die meine Fragen am besten beantworten. Aus dieser Datenquelle extrahiere ich dann einen zunächst möglichst minimalen Kerndatensatz, der meine Frage beantworten kann. Wenn später neue Fragestellungen hinzukommen, kann ich diesen Kerndatensatz entsprechend erweitern.

Entscheidend ist bei der Datenextraktion die Berücksichtigung des Kontexts der Daten – wo kommen meine Primärdaten her? In welchem Kontext (Anamnese? Befundung? Abrechnung? Qualitätssicherung?) wurden die Primärdaten dokumentiert? Was bedeutet dies für die Aussagekraft der Primärdaten für meine Fragestellung? Abrechnungsdaten spiegeln zum Beispiel nicht immer die klinische Realität wieder! Die Qualität der Analyseergebnisse hängt also direkt von der Qualität der Primärdaten ab. Also: Erfolgreiche sekundäre Datennutzung erfolgt gut geplant – und berücksichtigt die Kontextabhängigkeit der Primärdaten.

Können Sie uns ein konkretes Beispiel geben, das aufzeigt, wie sekundäre Daten optimal in der medizinischen und pflegerischen Patientenversorgung genutzt werden können?

In unserem Forschungsprojekt PATIS – A Patient Safety Intelligence System and Framework, welches vom österreichischen Wissenschaftsfonds FWF gefördert wird, beschäftigen wird uns mit der Frage, wie wir Daten aus der klinischen Routinedokumentation für Aussagen zur Patientensicherheit verwenden können.

Hierfür entwickeln wir derzeit Indikatoren, mit denen wir Patientensicherheit messbar machen können. Dies ist also unsere Fragestellung. Wir versuchen dann, in der umfangreichen ärztlichen bzw. pflegerischen Routinedokumentation die Daten zu finden, die uns helfen, uns Indikatoren messbar zu machen – also eine typische sekundäre Datennutzung. Wir kooperieren hier mit den Tirol Kliniken sowie mit Firmenpartnern. Aus dem Projekt heraus soll ein Patient Safety Minimum Dataset entstehen, welches dann auch von anderen Kliniken übernommen werden kann.

Nun andersherum gefragt: Wie realistisch ist aus Ihrer Sicht die optimale sekundäre Datennutzung oder unterliegen wir hier einer gigantischen Illusion? Denn, inwiefern können Daten überhaupt die menschliche Realität abbilden?

Wie schon andiskutiert sind Daten immer kontextabhängig – erst wenn ich weiss, in welchem Kontext Daten entstanden sind, entsteht Information, mit dem ich dann weiter arbeiten kann. So sind z.B. medizinische Diagnosen unterschiedlich zu interpretieren, je nachdem ob sie als Teil der Abrechnung dokumentiert (und für die Abrechnung optimiert) wurden) oder ob sie als Basis für eine Therapieplanung dokumentiert wurden. Wenn uns diese Kontextabhängigkeit klar ist, wir also Daten nicht blind vertrauen, und wenn wir die sekundäre Datennutzung gezielt planen, also an Fragestellungen ausrichten, dann werden hier einen enormen Nutzen erhalten. Von einem blinden „Schürfen“ nach neuen Erkenntnissen in einem riesigen Datenberg halte ich, wie hoffentlich deutlich wurde, recht wenig.

Wo und wie könnte die sekundäre Datennutzung eine Gefahr für die Patientenversorgung darstellen?

Eine Gefahr sehe ich dann, wenn ich Primärdaten ohne Betrachtung von Kontext und Aussagekraft so lange statistisch auswerte, bis ich irgendeinen Zusammenhang erkenne, und diesen dann unvalidiert in die klinische Entscheidungsfindung einfließen lasse.

Was sind Pflichten und Aufgaben von Gesellschaft, Politik, Bildung, Informatik, Managern im Gesundheitswesen, Gesundheitsfachpersonen und Patient/innen damit eine mit Mehrwehrt einhergehende sekundäre Datennutzung im Alltag gelingt?

Wir alle dürfen Daten und darauf aufsetzenden Auswertungen und Erkenntnissen nicht nur deswegen glauben, weil „Big Data“ gerade hip ist. Wir müssen vielmehr immer hinterfragen: Woher kamen die Daten? In welchem Kontext wurden sie generiert? Wie glaubwürdig sind sie? Und was war die Fragestellung der Auswertung? Außerdem müssen wir uns als Gesellschaft bemühen, dass die Anwender, also die Gesundheitsfachpersonen, ausreichend digitale Kompetenz haben, um Big Data-Anwendungen im Speziellen und Gesundheits-IT-Anwendungen im Allgemeinen kritisch mit zu begleiten und anzuwenden. Leider ist IT-Kompetenz oft kein Kern in der Ausbildung von Gesundheitsfachberufen. Ich halte es daher für eine wichtige Aufgabe, entsprechende berufsbegleitende Weiterbildungsangebot zu entwickeln.

Ich darf in diesem Zusammenhang erwähnen, dass wir uns an der UMIT schon seit ca. 2010 diesem Thema annehmen. Seit dieser Zeit bieten wir regelmäßig Intensivkurse zum Thema Informationsmanagement und eHealth für Pflegeberufe an. Ganz spannend ist jetzt unser neuer berufsbegleitender Universitätslehrgang „Health Information Management“, welcher sich gezielt an Gesundheitsfachberufe, aber auch an technische Berufe, wendet. Dieser Universitätslehrgang vermittelt in drei bzw. fünf Semestern fundierte Kompetenzen in Gestaltung, Auswahl, Einführung und Betrieb von IT-Systemen im Gesundheitswesen. Ein Schwerpunkt ist dabei auch die Sekundärnutzung von Routinedaten. Die nächste Gruppe startet im Herbst 2018.

Und für die vorletzte Frage springen wir in das Jahr 2037: Wie verändern bis dahin die Informationstechnologien das Berufsbild der Gesundheitsfachpersonen, und im Besonderen das der Pflegefachpersonen? An welchen Merkmalen sind diese Veränderungen erkennbar? (z.B. Bereiche der zwischenmenschlichen Kommunikation, Beratung und Befähigung der Patient/innen im Kontext des Selbstmanagements)

Eine schwierige Frage – Vorhersagen für die Zukunft liegen ja notorisch daneben! Aber gut, versuchen wir es: Im Jahre 2037 wird das Gesundheitswesen umfassend digitalisiert sein. Elektronische Patientenakten werden innerhalb der Einrichtungen Standard sein, und nationale eHealth-Infrastrukturen sorgen dafür, dass auch bei einem Einrichtungswechsel alle patientenbezogenen Informationen reibungslos übermittelt werden. Mobile Geräte sind allgegenwärtig, unflexible Standcomputer werden kaum noch benötigt.

Die derzeit teilweise überbordende Dokumentation ist zurückgeführt auf das wirklich Wichtige, der Fokus liegt auf der Unterstützung der unmittelbaren Patientenversorgung durch eine adäquate Dokumentation. Weiterführende sekundäre Auswertungen (z.B. für die Abrechnung oder das Qualitätsmanagement) erfolgen gut geplant im Hintergrund. Die Datenqualität wird dabei durch spezialisierte Informationsmanager laufend überprüft. Dies alles entlastet klinisch tätiges Personal von unnötigen Dokumentationsaufwänden und gibt mehr Zeit für die Patientenversorgung.

Der Patient wird eine viel aktivere Rolle als heute einnehmen und über Patientenportale auf die Informationen zugreifen, selber Informationen (z.B. Diabetes-Tagebücher, Sport-Apps etc.) einstellen, sich mit anderen Betroffenen vernetzen und mit Gesundheitsfachpersonen elektronisch kommunizieren können. Videosprechstunden und Heim-Monitoring werden zum Alltag gehören ebenso wie sensorgesteuerte Fernüberwachung von Patienten. Ein Krankenhausaufenthalt kann dadurch oft vermieden werden.

Intelligente Anwendungen helfen bei der klinischen Entscheidungsfindung, dienen aber nur als Unterstützung, nicht als Ersatz für eine gemeinsame Diskussion im multiprofessionellen Behandlungsteam. Digitale Grundkompetenzen werden in allen klinischen Ausbildungs- und Studiengängen integriert sein. Es wird spezialisierte Berufsbilder wie eine „Telemonitoring Nurse“ oder einen „Facharzt für Health Information Management“ geben, und diese werden attraktive Karrieremöglichkeiten bieten.

Gesundheitseinrichtungen werden einen Chief Information Office besitzen, welcher als Teil der Geschäftsführung über strategische Weiterentwicklungen im Bereich der Digitalisierung federführend mitentscheidet. Ob uns das gelingt, hängt von folgenden Fragen ab: Wieviel sind wir bereit, für ein modernes Gesundheitswesen zu investieren? In wieweit verstehen wir, dass klinische tätige Personen auch immer Informationsmanager sind und entsprechend Aus- bzw. Weiterbildungen und Karrierewege benötigen? Und wie schaffen wir es, auch die Bevölkerungsschichten in diese Vision einzubeziehen, die nur geringe oder keine IT-Kompetenz haben (Stichwort: Digital Divide)? Wir haben also noch viel zu tun in den nächsten Jahren.

Und die letzte Frage: Was ist kurz beschrieben Ihr Forschungsgebiet und welche Motivation treibt Sie in Ihrer Forschung an?

Ich beschäftige mich seit 15 Jahren mit dem Management von Informationssystemen im Gesundheitswesen. Ich möchte durch meine Arbeit dazu beitragen, die Qualität der Gesundheitsversorgung zu verbessern. Konkrete Forschungsthemen sind dabei unter anderem der Einsatz von IT-Lösungen zur Verbesserung der Medikationssicherheit, die Evaluierung des Nutzens von IT-Systemen im Gesundheitswesen, die Benutzerfreundlichkeit von IT-Lösungen, die Einbindung von Patienten über Patientenportale oder auch aktuell die Frage nach der Vermittlung notwendiger Kompetenzen an Gesundheitsfachberufe.

 

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AUTHOR: Friederike J. S. Thilo

Prof. Dr. Friederike Thilo ist Leiterin Innovationsfeld "Digitale Gesundheit", aF&E Pflege, BFH Gesundheit. Ihre Forschungsschwerpunkte sind: Design Zusammenarbeit Mensch und Maschine; Technologieakzeptanz; need-driven Entwicklung, Testung und Evaluation Technologien im Kontext Gesundheit/Krankheit; datenbasierte Pflege (Künstliche Intelligenz).

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