Wir wollen nur spielen!
Demenz macht Angst. Demente Angehörige verändern sich und konfrontieren einen mit der eigenen Vergänglichkeit. Immer wieder stellt sich die Frage, was von einem Menschen, von seiner Persönlichkeit bleibt, wenn Teile der Erinnerung und des Bewusstseins durch die Krankheit zerstört worden sind. Die Computer-Spiel-Plattform „Myosotis“ (lat. Vergissmeinnicht) lässt solche Ängste für eine Weile in den Hintergrund treten. Im Zentrum stehen die Begegnung und der gemeinsame Spielspass.
„Meine Mutter ist dement und ist jetzt im Heim. Da sitzt sie oft nur rum und wartet. So möchte ich sie eigentlich gar nicht sehen. Aber was soll ich mit ihr machen? Angebote für Angehörige gibt es hier keine. Und immer dasselbe Fotoalbum anschauen und Kaffee trinken langweilt mich. Meine Kinder kommen schon gar nicht mehr mit. Was sollen sie auch da. Dabei freut sich meine Mutter eigentlich über Kinderbesuch. Es ist schon erstaunlich: zwar erkennt sich mich nicht immer, aber von früher aus meiner und ihrer Kindheit erzählt sie viel. Auch Sachen, die ich noch gar nicht wusste oder vielleicht vergessen habe. Dass ich sie so selten besuche, macht mir ein schlechtes Gewissen. Klar. Aber nächste Woche geh ich mal wieder vorbei! Sicher. Vielleicht. Wenn ich Zeit habe.“ Ähnliche Bedenken und Überlegungen teilen viele Angehörige von an Demenz erkrankten Menschen in Heimen.
Gemeinsames Spiel auf dem Tablet
Aufgrund von eigenen Erfahrungen und Beobachtungen im Altersheim suchte die Autorin und Computerspielerin Bettina Wegenast nach einem anderen Weg, um sich beim Heimbesuch mit ihrer an Demenz erkrankten Schwiegermutter Dorothea zu beschäftigen. Zuerst versuchten sie es mit bekannten Spielen wie „Eile mit Weile“ und UNO. Doch gerade diese altbekannten Spiele erwiesen sich als Frust: die Regeln waren nicht mehr ganz klar, das Material zu kleinteilig und die Spielrunden dauerten zu lang. Zum Glück war Schwiegertochter Bettina eine begeisterte Digital-Spielerin. So begann sie, bei ihren Besuchen ihr Tablet mitzunehmen und darauf mit ihrer Schwiegermutter einfache Computer-Spiele zu spielen.
Obwohl Dorothea Wegenast früher mit Tablets nicht viel anzufangen wusste, liess sie sich sehr schnell auf das, bis dahin unbekannte Gerät ein: durch die intuitive Steuerung und durch die Freude darüber, dass „immer gleich etwas passiert“ war es sehr einfach, sie zum gemeinsamen Spiel zu motivieren.
Passende Spiele sind (noch) rar
Nicht ganz einfach war es allerdings, passende Spiele zu finden. Viele Games eignen sich zwar von der Mechanik, vom Gameplay her gut, wirken aber in der Artwork eher zu kindlich und sind für betagte Menschen manchmal schwierig zu steuern. Ausserdem gibt es nur wenige Spiele, welche man gemeinsam und gleichzeitig bedienen kann, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Es braucht also Computerspiele, welche speziell auf diese Zielgruppe zugeschnitten sind.
Noch besser ist es, wenn man sie mit persönlichen Materialen jeweils individuell anpassen kann. Wenn im Spiel zufällige Familienfotos, Bilder von bekannten Dingen oder sogar kleine Filme auftauchen, zu denen die Spielenden einen persönlichen Bezug haben, gewinnt das Spiel an Spannung und Abwechslung und kann die Spielenden zu Gesprächen über neue Themen animieren: „Weißt du noch damals in Italien?“ oder „Wer ist das schon wieder? Der Mäni Weber? Ja, „Dopplet oder nüt“ haben wir früher doch immer geschaut, nur Vater fand die Sendung blöd… da hat er doch dann immer… “.
Erste Prototypen von Studierenden der FHNW
Gemeinsam mit Marco Soldati, Informatikingenieur und Forscher an der Fachhochschule Nordwestschweiz (FHNW), schrieb Bettina Wegenast einige Projektarbeiten für Informatikstudierende aus. Mit solchen Arbeiten lassen sich neue Ideen ausprobieren und erste Erfahrungen sammeln. Unter dem Namen «Myosotis» starteten im Herbst 2015 zwei Zweierteams mit der Entwicklung von personalisierten Computerspielen für Menschen in Altersheimen und für ihre Angehörigen.
Souzan Alhenawi und Viviane Bendjus entwickelten im Rahmen ihrer Bachelorarbeit ein Spiel zum Thema Kochen und Essen. Anila Bircher und Markus Recher arbeiteten an einer personalisierten digitalen Adaption von „Eile mit Weile“ und einem „Leiterli-Spiel“. Hilfreich war, dass alle vier Studierenden den Studiengang Informatik mit Profilierung iCompetence absolvierten. iCompetence verbindet Informatik mit Design und Management und bietet damit eine gute Grundlage für die Entwicklung von Software für betagte Menschen.
Iteratives Entwicklungsmodell
In der Aufgabenstellung für die Myosotis-Spiele wurde ein sogenannter User-Centred-Design-Ansatz verlangt. Dabei wird Software in enger Zusammenarbeit mit den zukünftigen Benutzerinnen und Benutzern entwickelt. Innerhalb von etwa 6 Wochen haben die beiden Teams eine erste spielbare Version ihres Games programmiert und mit betagten Menschen und Angehörigen getestet. Nun konnten sie im Monatsrhythmus und basierend auf den Beobachtungen und Rückmeldungen weitere Versionen erstellen und laufend ausprobieren.
Suche nach dem passenden Test-Heim
Anfänglich war es nicht ganz einfach, passende Heime zu finden, um die Games regelmässig zu testen. Aber Dorothea Wegenast im „Zentrum Schönberg“ in Bern entpuppte sich als begeisterte und begnadete Spieletesterin. Als wahrer Glücksfall für das Projekt erwies sich die Aktivierungstherapeutin Stephanie Zeier vom „Lindenpark in Windisch“: „Bei uns können die Studierenden im Rahmen der Aktivierung ihre Spiele jederzeit testen – das ist für alle spannend und bringt frischen Wind“. Ein Angebot, das sowohl von den Studierenden, als auch von den Heimbewohnenden bis heute gerne in Anspruch genommen wird.
Tests mit der Zielgruppe sind wichtig!
Diese regelmässigen Spiele-Tests sind denn auch zentral für den Erfolg des Projekts. So können die Spiele laufend auf die Fähigkeiten und Bedürfnisse der Spielenden abgestimmt werden. Wie bunt, wie unruhig darf eine Spieloberfläche sein? Wie werden Abbildungen besser erkannt, als Fotos oder als Aquarelle? Wie muss ein Sound tönen, damit man ihn gut hört und er doch nicht stört? Und natürlich: welche Spiele machen überhaupt Spass? Welche Spiele interessieren auch Kinder? Und welchen Einfluss haben die persönlichen Bilder auf den Spielverlauf?
Erste Erkenntnisse
Bereits die ersten Spielsessions in den Altersheimen zeigten klar, dass die Idee funktioniert. In „Was gits z’Ässe?“, dem Esspiel von Souzan Alhenawi und Viviane Bendjus geht es darum die Zutaten von klassischen Schweizer Rezepten in einem Labyrinth aufzusammeln. Dabei gibt es Überraschungsmomente, zum Beispiel ertönt der Refrain eines alten Schlagers oder es werden zusätzliche Informationen zu einem Lebensmittel angezeigt. So animiert das Spiel zu Gesprächen über das Thema Essen.
Im „Eile mit Weile“ von Anila Bircher und Markus Recher sind gewisse Spielfelder farbig markiert. Kommt eine Spielfigur auf ein solches Feld, werden am Bildschirmrand persönliche Fotos angezeigt. Hier zeigte sich, dass auch die digitale Version von „Eile mit Weile“ eher zu kompliziert ist, jedoch waren die persönlichen Bilder äusserst attraktiv. In der Tat änderten die Spielenden kurzerhand das Spielziel: es ging nicht mehr darum, alle Figuren ins Ziel zu bringen, sondern darum, neue Fotos sehen zu können.
Zukunft
Inzwischen wurden 14 weitere Spielprototypen entwickelt, wobei rund die Hälfte davon regelmässig zum Einsatz kommt. Eine Weiterentwicklung von „Was git’s z’Ässe“ hat den ersten Preis der Walder-Stiftung im Bereich „Lebenshilfen“ gewonnen. Mit Mystix, einem personalisierten Multiplayer-Spiel hat der Informatiklernende Luca Schafroth die Bronzemedaille für eine der besten Lehrabschlussarbeiten der Schweiz erhalten .
Drei weitere Bachelorarbeiten sind im Moment in Entwicklung. Projektanträge mit verschiedenen Partnerinstitutionen, darunter auch die Berner Fachhochschule, sind in Planung oder werden gerade evaluiert. Damit können die Spiele in Zukunft in einem professionellen Umfeld entwickelt werden, mit dem Ziel, in absehbarer Zeit eine Sammlung öffentlich verfügbarer Spiele zu erstellen. Der Vertrieb und Unterhalt soll dann von einem kommerziellen Anbieter übernommen werden. Auch hier laufen entsprechende Vorabklärungen.
Positive Nebenwirkungen sind unbeabsichtigt
Für das Myosotis-Team ist wichtig, dass die Spiele keine therapeutischen Zwecke verfolgen. Spielen soll Spass machen und ein unbeschwertes Zusammensein ermöglichen. Hier soll es um die Stärken und nicht die Defizite der Spielenden gehen. Wenn sich dadurch die eine oder andere Fähigkeit oder sogar die allgemeine Befindlichkeit verbessert, ist das erfreulich, aber nicht in erster Linie die Absicht des Projekts.
Wir wollen nur spielen. Nicht mehr, aber auch nicht weniger!
Mehr Infos: https://myosotis.i4ds.net/
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