Meine Gesundheit – meine Verantwortung?
Im Zeitalter von Self-Tracking, Self-Monitoring, Quantified Self und Self-Managment unter anderem wird Gesundheit immer mehr zum Gegenstand der Selbstverantwortung für den Einzelnen. Digitalisierung verbessert die Gesundheitssituation und leistet einen Beitrag zur Reduktion der hohen Gesundheitskosten. Entsprechen diese Erwartungen auch den vorhandenen Möglichkeiten?
Gesundheitspolitische Forderung und Förderung
Die demographische Entwicklung, die hohe Prävalenzzahlen an nichtübertragbaren Krankheiten und damit einhergehende Krankheits- und Pflegekosten in der Schweiz spiegeln sich unter anderem in der alljährlichen Erhöhung der Krankenkassenprämien wider. Das Ziel des Bundes – „Das Schweizer Gesundheitssystem soll qualitativ hochstehend, finanzierbar und zugänglich bleiben“ – sollte im Interesse aller Beteiligten stehen. Entsprechende Massnahmen zur Kostenreduktion bei gleichbleibender Qualität müssen daher auch von allen getragen werden. Diskussionen darüber werden von den Interessensgruppen mit unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen geführt. Die von verschiedenen Seiten geforderte und zum Teil auch geförderte Eigenverantwortung des Einzelnen stellt dabei ein wichtiges Puzzleteil dar (siehe auch Tab. 1).
Im Bereich der Gesundheitsförderung und Prävention offenbaren sich aufgrund technologischer Entwicklungen neue vielversprechende Ansätze, die ebenfalls in den gesundheitspolitischen Diskurs rund um die Eigenverantwortung miteinfliessen. Es stellt sich die Frage worin diese Verantwortung genau liegt und inwieweit M-Health² in diesem Zusammenhang tatsächlich einen Mehrwert für das Individuum, für die Gesellschaft bringt und letztendlich zur gewünschten Kostenreduktion im Gesundheitswesen beitragen kann?
Verantwortung – ein weit gefasster Begriff
In diesem Kontext muss zuerst der Begriff Eigenverantwortung etwas genauer analysiert werden. Was steckt konkret dahinter? In der Literatur werden vor allem zwei Konstrukte beschrieben, die Gesundheitskompetenz und das Selbstmanagement. Der Begriff Gesundheitskompetenz wird in einem Dokument der WHO sehr umfassend dargestellt und beinhaltet „das Wissen, die Motivation und die Kompetenzen von Menschen in Bezug darauf, relevante Gesundheitsinformationen in unterschiedlicher Form zu finden, zu verstehen, zu beurteilen und anzuwenden, um im Alltag in den Bereichen der Krankheitsbewältigung, der Krankheitsprävention und der Gesundheitsförderung Urteile fallen und Entscheidungen treffen zu können, welche die Lebensqualität im gesamten Lebensverlauf erhalten oder verbessern“(WHO Regional Office for Europe, 2013). Der Begriff Selbstmanagement (in Kontext von chronischen Erkrankungen) schliesst eine Vielzahl von Charakteristika ein, wie z.B.
- Wissen über die Krankheit und ihre Behandlung haben,
- aktive Beteiligung an der Kontrolle und dem Management der Krankheit,
- Identifikation von Faktoren, die zu einer Verschlechterung der Krankheit führen können,
- das Ergreifen von geeigneten Massnahmen, um Symptome in verschiedenen Situationen zu verhindern und zu behandeln etc.¹
Beide Begriffe umfassen ähnliche Inhalte und sind generell sehr weit gefasst. Es ist offensichtlich, dass elektronische Hilfsmittel hier unterstützend sein können (Informationsaustausch, Wissensmanagement, externes Feedback, Selbstüberwachung, Selbstbeurteilung der eigenen Gesundheitsdaten). Andererseits kann diese Eigenverantwortung auch gewisse „Nebenwirkungen“ mit sich bringen. Es wird dem Einzelnen mit der geforderten Eigenverantwortung auch eine gewisse Last aufgebürdet, die vermutlich nicht von allen gleich getragen werden kann (s. nächstes Kapitel). Zudem wird es zunehmend schwieriger eine Grenze zwischen Eigenverantwortung und Verantwortung der Gesundheitsfachpersonen zu ziehen. Dies könnte im Falle von Behandlungsfehler bei chronisch Kranken schwerwiegendere Konsequenzen mit sich tragen.
Wissenschaftliche Voraussetzungen
Die wissenschaftliche Literatur untermauert das Potenzial von M-Health-Lösungen, wenn es um die Verantwortung im Umgang mit der eigenen Gesundheit geht. Patienten mit chronischen Erkrankungen nehmen ihren Gesundheitszustand besser wahr, sie sind in der Lage Entscheidungen im Behandlungsprozess zu treffen und sind angespornt ihre Gesundheitsdaten durch Verhaltensänderungen zu optimieren. Durch zusätzliche Rückmeldungen des Gesundheitspersonals fühlen sich die Patienten besser betreut und sind auch entsprechend motiviert (Morton et al., 2017; Whitehead & Seaton, 2016). Allerdings darf dabei nicht ausser Acht gelassen werden, dass die Teilnehmenden dieser Studien bereits im Vorfeld positiv eingestellt sind, wenn es um die Anwendung digitaler Hilfsmittel und die Eigenverantwortung geht. Zudem zeigen Ergebnisse, dass die Hauptnutzerinnen und -nutzer dieser Hilfsmittel jüngere Personen mit höherem sozioökonomischen Status und besserem Gesundheitszustand sind (Carroll et al., 2017; Ernsting et al., 2017).
Ähnliche Faktoren beeinflussen auch die Gesundheitskompetenz. Geringe Gesundheitskompetenzen gehen einher mit einem niedrigen sozioökonomischen Status, gesundheitsabträglichen Verhaltensweisen, sowie erhöhter Morbidität und Mortalität. Zusätzlich scheint es für diese Personengruppe schwieriger zu sein, digitale Lösungen effektiv zu nutzen (Jensen, King, Davis, & Guntzviller, 2010; Kim & Xie, 2017). Diese digitale und gesundheitliche Ungleichheit muss bei der Forderung zu mehr Eigenverantwortung unbedingt berücksichtigt werden, wie auch der Umstand, dass über die Wirksamkeit digitaler Interventionen noch wenig verallgemeinerbare Aussagen zulässig sind. Dies schliesst auch Kosten-Nutzen-Rechnung mit ein.
Was muss getan werden?
Auch wenn der Forschungsbedarf noch gross ist, so zeigt sich, dass in Zukunft digitale Hilfsmittel den Einzelnen unterstützen können, mehr Eigenverantwortung zu übernehmen. Das Potenzial scheint enorm. Die ersten Ansätze solche Massnahmen umzusetzen sind generell positiv zu bewerten. Das ist aber nur eine Seite der Medaille. Für eine Umsetzung in der Schweizer Bevölkerung müssen wichtige Voraussetzungen geschaffen werden. Einerseits muss ein breiter Konsens geschaffen werden, was Eigenverantwortung umfasst und andererseits muss die Unterstützung für sozial benachteiligte Bevölkerungsgruppen in Hinblick auf digitale Kompetenzen und Gesundheitskompetenzen gewährleistet sein. Wird diesem Aspekt zu wenig Beachtung geschenkt, so werden die Möglichkeiten jenen vorbehalten bleiben, die schon jetzt von den Angeboten der Prävention und Gesundheitsförderung am meisten profitieren. Die „digitale Kluft“ würde die gesundheitliche Ungleichheit noch verstärken. Damit würde vermutlich auch eine grosse Chance verloren gehen, die Gesundheitssituation in der Schweiz zu verbessern bzw. die Gesundheitskosten langfristig zu reduzieren.
Fussnote:
- Eine umfangreiche Darstellung ist unter Whitehead and Seaton (2016) zu finden.
- Der Begriff Mobile Health (mHealth) beschreibt medizinische Verfahren sowie Massnahmen der privaten und öffentlichen Gesundheitsfürsorge, die durch Mobilgeräte wie Mobiltelefone, Patientenüberwachungsgeräte, persönliche digitale Assistenten (PDA) und andere drahtlos angebundene Geräte unterstützt werden
(Quelle: https://www.e-health-suisse.ch/header/glossar.html#M)
References
WHO Regional Office for Europe. (2013). Health literacy: The solid facts (Healthy cities 21st century). Copenhagen. Retrieved from World Health Organization website: http://www.euro.who.int/__data/assets/pdf_file/0008/190655/e96854.pdf?ua=1
Whitehead, L., & Seaton, P. (2016). The Effectiveness of Self-Management Mobile Phone and Tablet Apps in Long-term Condition Management: A Systematic Review. Journal of medical Internet research, 18(5), e97. doi:10.2196/jmir.4883
Morton, K., Dennison, L., May, C., Murray, E., Little, P., McManus, R. J., & Yardley, L. (2017). Using digital interventions for self-management of chronic physical health conditions: A meta-ethnography review of published studies. Patient education and counseling, 100(4), 616–635. doi:10.1016/j.pec.2016.10.019
Ernsting, C., Dombrowski, S. U., Oedekoven, M., O Sullivan, J. L., Kanzler, M., Kuhlmey, A., & Gellert, P. (2017). Using Smartphones and Health Apps to Change and Manage Health Behaviors: A Population-Based Survey. Journal of medical Internet research, 19(4), e101. doi:10.2196/jmir.6838
Carroll, J. K., Moorhead, A., Bond, R., LeBlanc, W. G., Petrella, R. J., & Fiscella, K. (2017). Who Uses Mobile Phone Health Apps and Does Use Matter? A Secondary Data Analytics Approach. Journal of medical Internet research, 19(4), e125. doi:10.2196/jmir.5604
Kim, H., & Xie, B. (2017). Health literacy in the eHealth era: A systematic review of the literature. Patient education and counseling, 100(6), 1073–1082. doi:10.1016/j.pec.2017.01.015
Jensen, J. D., King, A. J., Davis, L. A., & Guntzviller, L. M. (2010). Utilization of internet technology by low-income adults: the role of health literacy, health numeracy, and computer assistance. Journal of aging and health, 22(6), 804–826. doi:10.1177/0898264310366161
Bundesamt für Gesundheit (BAG) (Ed.). (2013). Gesundheit2020: Die gesundheitspolitischen Prioritäten des Bundesrates. Retrieved from https://www.bag.admin.ch/bag/de/home/themen/strategien-politik/gesundheit-2020/eine-umfassende-strategie-fuer-das-gesundheitswesen.html
Bundesamt für Gesundheit (BAG) und Schweizerische Konferenz der kantonalen Gesundheitsdirektorinnen und -direktoren (GDK) (Ed.). (2016). National Strategie Prävention nichtübertragbarer Krankheiten (NCD-Strategie) 2017-2024. Retrieved from https://www.bag.admin.ch/bag/de/home/themen/strategien-politik/nationale-gesundheitsstrategien/strategie-nicht-uebertragbare-krankheiten.html
Economiesuisse. (2016). Leitlinie der Wirtschaft – für eine neue Schweizer Gesundheitspolitik. Retrieved from http://www.economiesuisse.ch/sites/default/files/publications/Gesundheitsleitlinien_Teil1_DE.pdf
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