Digitale Transformation im Gesundheitswesen – von Systemen zu Netzwerken

Digitale Transformation im Gesundheitswesen ist ein vielschichtiger und kaum überschaubarer Themenbereich. Diskutiert wird über Big Data und Predictive Analytics, eHealth, mobile Health, Apps und Sensoren, über neue Ansätze in Forschung, Diagnose und Therapie. Der gesetzliche Rahmen für sichere digitale Kommunikation im Gesundheitswesen wurde geschaffen und langsam finden diese technologischen Entwicklungen Beachtung und Eingang in die Kliniken, Praxen und Labors und damit in den Alltag des ersten Gesundheitsmarktes. Unabhängig vom klassischen Gesundheitswesen hat sich aber, wenn es um die persönliche Auseinandersetzung mit Gesundheit und Krankheit geht, schon länger eine Art Paralleluniversum entwickelt. Die Welt der vernetzten Bürger und Konsumenten, die Welt der ePatienten. Ein Paralleluniversum, das in den Möglichkeiten der Vernetzung gründet, neue Werte und Normen und damit neue Ansprüche hervorbringt und von dem eine starke transformative Kraft ausgeht, die das Gesundheitswesen, so wie wir es heute kennen, gerade ziemlich auf den Kopf stellt.

Konnektivität
Die Wurzeln digitaler Transformation bildet das Thema der Konnektivität. Konnektivität bedeutet die zunehmende Organisation unserer Welt in Netzwerken und impliziert einen Paradigmenwechsel in allen Gesellschaftsbereichen von „Systemen“ hin zum „Netzwerken“.
Was ist der Unterschied zwischen Systemen und Netzwerken? Jedes System – ob mechanisch wie eine Uhr, organisch wie der Körper oder sozial wie ein Spital – hat ein Organisationsprinzip, das drei Funktionen erfüllt:

  • es selegiert die Elemente, die zum System gehören,
  • es relationiert, d.h. es setzt die Elemente zueinander in Beziehung und
  • es steuert.

Die „Elemente“ des Systems, also die Rollen und Funktionen, sind vom System „konstruiert“. Ein Arzt ist ein Arzt, eine Pflegefachperson eine Pflegefachperson, ein Patient ein Patient. Sie haben bestimmte Funktionen und Rollen in der Organisation zu erfüllen. Netzwerke geben keine klaren Rollen und Funktionen vor, sondern sind einfach eine Ansammlung von irgendwie miteinander verbundenen Akteuren. Eine Mutter eines chronisch kranken Kindes hat möglicherweise durch ihr Vernetztsein mehr Wissen über diese spezifische Krankheit, als der sie behandelnde Hausarzt.

Jedes System ist auf eine Differenz zur Umwelt begründet und diese Differenz ist für jedes System konstitutiv. Das System schliesst aus, um zu funktionieren. Alles, was aus dem System ausgeschlossen wird, bildet die Umwelt des Systems. Systeme müssen also klare Grenzen haben. Sie müssen wissen, was und wer dazu gehört und was nicht. Ein Spital als System betrachtet grenzt sich traditionellerweise klar ab von ambulanter Pflege, von niedergelassen Ärzten, von Pflegeeinrichtungen oder einem Altersheim.

Im Gegensatz zu Systemen haben Netzwerke durchlässige und unscharfe Grenzen. Es ist weniger wichtig zu wissen, wer oder was dazu gehört, als zu wissen, wer mit wem verbunden ist. Ein Netzwerk differenziert sich von anderen Netzwerken nicht durch Grenzen, sondern durch die Intensität und Qualität der Kommunikationen. Für einen Diabetespatienten gehört deshalb seine aus online Freunden bestehende Diabetes-Community z.B. auf mySugr genauso zum Netzwerk wie der Arzt im Spital, sein Case Manager bei der Versicherung und sein Blutzuckermessgerät. Im Gegensatz zu Systemen, die zur eigenen Identitätsbildung möglichst eindeutig wissen müssen, wer sie sind, erlauben Netzwerke multiple Identitäten. Jeder Akteur in einem Netzwerk ist gleichzeitig Teil anderer Netzwerke. Gesundheit und Krankheit betrachte ich je anders, je nachdem ob ich im konkreten Fall Patientin, Steuerzahlerin und Versicherungsnehmerin bin.

Soziale Systeme grenzen sich gegenüber der Umwelt, wo unendlich viel Anderes passieren kann, durch zentrale Steuerung, klare Zielsetzungen und strenge Funktionalisierungen ab und reduzieren auf diese Weise Komplexität. Netzwerke wie traditionelle Organisationen managen oder steuern zu wollen, ist äusserst schwierig. Netzwerke sind flexibel, innovativ und komplex. Wandel ist in Netzwerken grundgelegt. Für ein Netzwerk entsteht Ordnung nicht dadurch, dass möglichst viel Komplexität durch zentrale Steuerung, klare Zielsetzungen und strenge Funktionalisierungen reduziert wird, sondern durch das Freisetzen der Kräfte der Selbstorganisation. Ordnung entsteht „bottom up“.Gegenwärtig erleben wir in allen Gesellschaftsbereichen einen Übergang von Systemen hin zu Netzwerken. Und dies mit ziemlich weitreichenden Folgen. Die traditionellen Akteure im Gesundheitswesen befinden sich gegenwärtig eher noch auf der Systemseite, die vernetzten Patienten, Konsumenten und Bürger bewegen sich vermehrt in der Netzwerkwelt.

Neue Werte und Normen
Aus der Organisation unserer Gesellschaft in Netzwerken heraus sind eine Reihe neuer Werte und Normen entstanden: Die Forderung nach offener Kommunikation, Transparenz, Partizipation, Authentizität, Empathie, Heterogenität und Flexibilität. Diese Werte sind mehr als Schlagworte – sie sind eine Realität der vernetzten Welt. An ihnen werden alle unsere Produkte, Dienstleistungen und Konversationen – als Einzelpersonen oder als Organisationen auch im Gesundheitswesen – gemessen.

Technologie als Treiber
Auch wenn Technologie nicht Kern der digitalen Transformation ist, so ist sie doch ein ganz mächtiger Treiber und Katalysator – allen voran die Mobiltechnologie. Kein Techniktrend hat sich so rasant etabliert wie die Kommunikation via smarte mobile Endgeräte. Ende 2013 gab es weltweit erstmals mehr Mobilgeräte als Menschen und wir sind die erste Generation, die überall wo wir hinkommen kostenloses Wi-Fi erwarten. Mobilgeräte sind zu Türöffnern für den Zugang zu Information, Kommunikation und Partizipation für ganz unterschiedliche Generationen geworden. Und natürlich bedienen sich auch Gesundheits- und Wellnessaktivitäten zunehmend mobiler Technologien. Mobiltechnologie hat zu so etwas wie „seamless health“ geführt – die Auseinandersetzung mit Gesundheit und Krankheit ist aus Sicht von Gesundheitskonsumenten und Patienten fliessend geworden. Sie macht nicht mehr an der Spitalpforte oder der Tür zur Arztpraxis halt. Die Auseinandersetzung mit Gesundheit und Krankheit ist vielmehr zu einem Kontinuum über verschiedene Orte, Zeiten, Technologien, soziale Settings, aber auch über verschiedene Märkte hinweg geworden.

ePatienten-Bewegung
Neben unterschiedlichsten Auswirkungen der digitalen Transformation auf unseren Umgang mit Gesundheit und Krankheit wie Quantified Self-Bewegung, Consumer Genomics, Big Data und Predictive, Ansätze künstlicher Intelligenz bei der Befundung und Früherkennung von Krankheiten, partizipativer Forschung und Patient Crowdsourcing, einem neuen Umgang mit Gesundheitsdaten, partizipativer Medizin und Shared Decision Making, um nur ein paar wenige zu nennen, steht insbesondere die Forderung nach einer neuen Patienten- oder Kundenkommunikation im Raum. Die vernetzte Gesellschaft  verlangt eine offene Form der Kommunikation. Kommunikation, auch Patienten- und Angehörigenkommunikation muss offen, selbstkritisch, respektvoll, ehrlich sein. Einige Institutionen im Gesundheitswesen haben diese Tendenz erkannt und kommunizieren auf allen nur erdenklichen Kanälen mit den Patienten und ihren Angehörigen. Die amerikanische Mayo Clinic tut dies sehr erfolgreich via Blog, Podcast, Diskussionsforen, Videokanal auf iTunes und YouTube, Facebook, Twitter und sehr ausgefeiltem Patientenportal inklusive App. Kommunikation mit Ärzten und Pflegepersonen wird in den meisten Studien als Hauptgrund für Patientenzufriedenheit genannt. Und Patientenzufriedenheit wiederum als massgeblicher Treiber für Health Outcome. In Europa wird diesem Thema langsam aber sicher mehr Beachtung geschenkt. Das Dresdner Sozialunternehmen „was-hab-ich“ übersetzt für Patienten kostenlos medizinische Berichte und Befunde in ein verständliches Deutsch und der Direktor des ReShape Institute an der Radboud Universität in den Niederlanden hat an der eigenen Klinik eine neue Funktion, die des CLO, des Chief Listening Officers eingerichtet, dessen bzw. deren Aufgabe nichts weiter beinhaltet, als den Patienten, ihren Angehörigen, aber auch den Mitarbeitenden zuzuhören und die Learnings wieder in die Qualitätsprozesse der Organisation einfliessen zu lassen.

Tatsächlich ist eine neue Generation von Patienten, die so genannten ePatienten, am Entstehen, die die Werte der vernetzten Welt, offene Kommunikation, Transparenz und Partizipation ins Zentrum stellt. Das kleine „e“ vor Patient steht übrigens nicht nur für „elektronisch“, sondern für educated, enabled, engaged und empowered – aktiv, befähigt, kompetent. Die ePatienten sind mit ihren Forderungen nach Kommunikation, Partizipation und Transparenz zu einer neuen ernstzunehmenden Einflussgrösse auf dem Gesundheitsmarkt geworden.


Weiterbildungen zum Thema:

CAS eHealth – Gesundheit digital
nächster Start: Februar 2018

CAS Digitale Transformation
nächster Start: März 2018


 

Creative Commons Licence

AUTHOR: Andréa Belliger

Prof. Dr. Andréa Belliger (*1970) ist Prorektorin der PH Luzern und Co-Leiterin des Instituts für Kommunikation & Führung. Sie leitet u.a. die Studiengänge CAS eHealth – Gesundheit digital (http://bit.ly/2hBXb70) und CAS Digitale Transformation (http://bit.ly/2mYDYh5) und berät Unternehmen rund um die Themen der Digitalen Transformation.

Create PDF

Ähnliche Beiträge

Es wurden leider keine ähnlichen Beiträge gefunden.

0 Kommentare

Dein Kommentar

An Diskussion beteiligen?
Hinterlasse uns Deinen Kommentar!

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert