«Wir haben mehr Datensätze als Programmierer» – Interview B. Estermann Teil II

So viele Kulturdaten wie möglich für den 3. Schweizer Kulturhackathon gewinnen – das Ziel von Koordinator Beat Estermann ist erreicht: die teilnehmenden Hacker können in diesem Jahr aus dem Vollen schöpfen. Mit den Daten werden sie Apps programmieren oder Spiele entwickeln. Im zweiten Teil unseres Interviews spricht Beat Estermann über Altruismus, Kreativität und Best Cases im Bereich Open GLAM.

Wer den Begriff Hackathon zum ersten Mal hört, denkt vielleicht zuerst an den Hackerangriff Wannacry. Wie sind die Hacker, die an Ihren Hackathon kommen?
Der Begriff Hacker stammt ab vom englischen Wort Hack. Das bezeichnet eine schnell gefundene, kreative Lösung, die vielleicht nicht ganz bis zum Ende durchdacht ist. Ziel ist es, in kurzer Zeit etwas Angewandtes zu erfinden. Mit Hack assoziiere ich auch den Aspekt des Innovativen, des Unkonventionellen, des Unerwarteten, etwas zu probieren, was nicht alle machen.

Was findet an dem Hackathon statt?
Am Hackathon geht es grundsätzlich darum, Personen aus verschiedenen beruflichen Hintergründen  aus dem GLAM-Umfeld zusammen zu bringen. Zwei Tage lang arbeiten sie an konkreten Projekten basierend auf offenen Daten. Die Idee ist einerseits aufzuzeigen, was man alles mit den Daten machen kann und damit den Gedächtnisinstitutionen einen Ansporn zu geben, ihre Daten zur Nutzung durch Dritte freizugeben oder selber neue Anwendungen zu schaffen. Der Hackathon erlaubt es den verschiedenen Players, neue Ideen zu entwickeln, sie zu konkretisieren, zu sehen, welche Kompetenzen es zu ihrer Umsetzung braucht, und sich eine erste Vorstellung davon zu machen, wer über diese verfügt mit wem man zusammenspannen könnte.

Dann nutzen Sie den Event auch zum Lobbying in Sachen Open GLAM?
Der Hackathon ist ein wichtiger Anlass, um auf die Institutionen zuzugehen und nachzufragen, ob und von wem wir zusätzliche Daten bekommen können. Es gibt in der Schweiz rund 1500 Gedächtnisinstitutionen. Mit Massenmails haben wir bereits alle angeschrieben. Persönlich angesprochen haben wir 200-300. Es ist ein dauernder und langwieriger Prozess. Bei gewissen Institutionen dauert es von der ersten Kontaktnahme bis zur ersten Freigabe von Daten drei bis vier Jahre. Dabei geht es uns nicht allein um die Daten, sondern auch um einen Kulturwandel seitens der Institutionen.

Zählen Kultureinrichtungen wie Theater und Opernhäuser auch zu Gedächtnisinstitutionen? Oder anders gefragt, was verbindet Kulturdaten und Open GLAM?
Ich benutze die Begriffe „offene Kulturdaten“ und „Open GLAM“ als Synonyme. Generell wäre der Begriff der Kultur natürlich weiter zu fassen als jener der GLAM: Kultur findet im Jetzt statt, die Gedächtnisinstitutionen dokumentieren Ereignisse, die bereits vergangen sind. Gewisse staatliche Archive möchten nicht zu den kulturellen Institutionen gezählt werden, weil sie nicht in erster Linie eine kulturelle, sondern eine staatspolitische Aufgabe wahrnehmen. Sie stehen für die Transparenz und Nachvollziehbarkeit des staatlichen Handelns. Darüber hinaus lassen sich ihre Bestände natürlich auch zur Kultur eines Landes zählen.

Welche Institutionen erwarten Sie zum Hackathon?
Dabei sein werden Institutionen wie das Bundesarchiv, die Nationalbibliothek, das Literaturarchiv, verschiedene Zürcher Archive, die ETH-Bibliothek, Swissbib, die Universitätsbibliotheken Basel und Lausanne, das Landesmuseum sowie etliche weitere Institutionen.

Wie viele Datensätze bieten Sie an?
Aktuell haben wir über 80 Datensätze von über 40 Institutionen; d.h. wir haben mittlerweile mehr offene Datensätze als Programmierer am Hackathon teilnehmen. Es ist schwer vorauszusehen, wie viele es noch werden, denn viele Institutionen melden ihre Datensätze in den letzten beiden Wochen vor dem Hackathon an.

Das war früher wohl schwieriger?
Ja, beim ersten Hackathon hatte ich Angst, dass nicht genügend Daten bereit stehen würden. Ohne Daten funktioniert ein Hackathon nicht. Mittlerweile haben wir jedoch genügend Datensets auch aus den früheren Events und jedes Jahr kommen neue hinzu. Wir können jederzeit einen Hackathon veranstalten und sind nicht mehr so abhängig davon, ob uns die Institutionen neue Daten liefern.

Die Daten werden primär für den Hackathon bereitgestellt. Für wen sind die Daten anschliessend gedacht, wenn sie öffentlich zugänglich sind?
Theoretisch kann sie sich jeder ansehen, genau wie sich jeder im Museum eine Ausstellung ansehen kann. Aber es braucht Intermediäre, Vermittler. Herr und Frau Schweizer gehen ja nicht unbedingt selbst in ein Archiv, um nach Daten zu suchen. Sie würden die Kulturdaten bearbeitet konsumieren – sei es in Wikimedia, mittels einer App, oder indem sie einen journalistischen Beitrag darüber lesen, welcher beispielsweise Erkenntnisse aus der historischen Forschung vermittelt.

Wer sind die Vermittler bzw. die Hacker?
Es sind Historiker, die historische Auswertungen machen, App-Programmierer, die Anwendungen für ein breites Publikum entwickeln, oder Künstler, die die Daten in ein Werk verarbeiten. Zu unseren Hackern zählen Ideengeber, d.h. Leute, die sich mit Kulturdaten auskennen, eine bestimmte Frage zu den Daten haben oder kreative Ideen in den Raum stellen. Wichtig sind auch Webdesigner und Software-Entwickler, welche die Ideen umsetzen, oder die Vertreter der Gedächtnisinstitutionen, welche ihre Fachexpertise einbringen. Wir hatten aber auch schon PerformancekünstlerInnen unter den Teilnehmern; und auch für DatenjournalistInnen würden sich gewisse Datensätze eignen.

Welche Veröffentlichung im Bereich Open GLAM ist für Sie ein Best Case?
Eines der frühen Highlights war der Foto-Upload des deutschen Bundesarchivs. Dabei sind etwa 100.000 Bilder aus dem 2.Weltkrieg erstmals für die breite Öffentlichkeit zugänglich gemacht geworden. Die grösste Aufgabe war dabei, dass die Metadaten in grossen Teilen ergänzt und überarbeitet werden mussten, weil die Beschreibungen noch dem Zeitgeist des 3. Reiches entsprachen. Für die Community war das ein sehr erfolgreiches Ergebnis. Seither gibt es viele andere gute Beispiele; jedes hat seine Eigenheiten.

Woher kommt generell die Motivation, Daten oder eben Fotos frei zugänglich zu machen?
Dafür gibt es verschiedene Gründe. Demokratische Ideen, Transparenz oder auch Altruismus. Im Bereich GLAM haben die Gedächtnisinstitutionen nicht nur den Auftrag zu bewahren, sondern auch zu vermitteln und da öffnet das Internet viele neue Türen. Zum Beispiel sind manche Institutionen in einer thematischen Nische angesiedelt. Dank dem Internet können sie ein weltweites Publikum erreichen. Zudem ist es nur eine Frage der Zeit, bis die Menschen die neuen Arten des Zugangs und der Vermittlung von Wissen nachfragen.

Wann genau entsteht die Nachfrage – schon vor der Veröffentlichung der Exponate, Informationen oder Daten oder erst danach?
Das ist eine schwierige Frage. Die Überlegungen, Wissen zu sammeln und aufzuzeichnen, gehen zurück bis in die Antike. Es gab immer Menschen, die sich mit Wissen beschäftigten. Die Aufklärer veröffentlichten die ersten grossen Enzyklopädien, um das Wissen der Menschheit zugänglich zu machen. Die Idee an sich ist also schon alt. Sie entwickelte sich mit dem technologischen und gesellschaftlichen Fortschritt weiter, und im Zuge der Demokratisierung wandelte sich zudem das Verständnis des Staates. Früher war das Staatswissen oftmals geheim, unter anderem um die Herrschaft zu erleichtern. In der Demokratie können und sollen aber alle mitwirken und damit das funktioniert, braucht das Volk Informationen. Die Grundlagen des staatlichen Handelns müssen öffentlich zugänglich sein. Die heutige Ausprägung des Open Content ist eine logische Weiterführung dieser Entwicklung und eine wichtige Grundlage einer offenen Gesellschaft.

Gibt es noch die Möglichkeit, sich anzumelden?
Ja, der Anlass ist offen für jeden. Am besten funktioniert es für diejenigen, die in einem Team ein prototypisches Projekt mit den Datensätzen realisieren möchten. Dazu kann man mit einer eigenen Idee an den Event kommen und sie am Anfang des Events kurz vorstellen. Man kann sich aber auch während der Gruppenbildungsphase einem Team anschliessen, das eine Projektidee verfolgt, die man selber interessant findet. Für diejenigen, die noch nie einem Hackathon beigewohnt haben, würde ich unbedingt empfehlen, dass sie die Gruppenbildungsphase am Anfang des Events nicht verpassen. Einfach nur reinschauen, ohne sich selber aktiv einzubringen, funktioniert nur bedingt. Wer aktiv mitmacht, hat sicherlich mehr vom Event. Wir bieten aber auch ein interessantes Workshop-Programm, bei dem man sich über das eigentliche Hacken hinaus, zu verschiedenen Themen kundig machen und austauschen kann.


Hackathon: Am 15. und 16. September findet der Swiss-Open-Cultural-Data-Hackathon an der Universität Lausanne statt. Die Teilnahme ist gratis, Interessierte sind gebeten, sich bis 31. August anzumelden.


Zur Person

Beat Estermann ist stellvertretender Leiter des Schwerpunkts «Open & Linked Data» am E-Government-Institut der Berner Fachhochschule. Er forscht im Themenbereich Open Data und OpenGLAM, d.h. Open Data und Crowdsourcing in Gedächtnisinstitutionen. Zudem koordiniert er die schweizerische OpenGLAM- Arbeitsgruppe des Vereins opendata.ch und die eCH-Fachgruppe Open Government Data.


 

Creative Commons Licence

AUTHOR: Anne-Careen Stoltze

Anne-Careen Stoltze ist Redaktorin des Wissenschaftsmagazins SocietyByte und Host des Podcasts "Let's Talk Business". Sie arbeitet in der Kommunikation der BFH Wirtschaft, sie ist Journalistin und Geologin.

Create PDF

Ähnliche Beiträge

Es wurden leider keine ähnlichen Beiträge gefunden.

1 Antwort

Trackbacks & Pingbacks

  1. […] “Wir haben mehr Datensätze als Programmierer” – Interview B. Estermann Teil II […]

Dein Kommentar

An Diskussion beteiligen?
Hinterlasse uns Deinen Kommentar!

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert