Innovation durch Einbezug der User

User stimulieren innovative Technologieentwicklungen. Obwohl immer mehr Menschen gesundheitsrelevante Technologien nutzen, werden sie noch selten systematisch in deren Entwicklung und Testung einbezogen. Der Mehrwert des User-Einbezugs sowie Anforderungen an die Entwickler/User und Herausforderungen werden ausgeführt. Das Forschungsprojekt AIDE-MOI zeigt den systematischen Einbezug von Usern beispielhaft auf.

Es sind die User selbst, die den Mehrwert einer Technologie in der praktischen Anwendung kennen. Sie gelten als Innovationsquelle technologischer Entwicklungen. Sie wissen wo, was und wann im kontextspezifischen Alltag mittels Technologie erleichtert werden kann. Daher ist der Einbezug von Usern in die Technologieentwicklung eine Idee, die seit über 50 Jahren verfolgt wird. Trotzdem werden User noch selten systematisch in die Entwicklung von gesundheitsrelevanten Technologien, z.B. mobile Technologien, Applikationen oder webbasierte Dienste, einbezogen. Dies, obwohl in der digitalisierten Welt zunehmend Technologien im Umgang mit Gesundheit und Krankheit eingesetzt werden.

Unterschiedliche User
Je nach Kontext können verschiedene Usergruppen unterschieden werden: Patienten, Klienten, Bewohner, Personen mit besonderen Bedürfnissen (z.B. Personen mit Behinderung), ältere Menschen, Angehörige und Gesundheitsfachpersonen. Diese werden wiederum in Primär- und Sekundär-User differenziert. Primär-User nutzen eine Technologie für die eigene Behandlung, Therapie und / oder Pflege. Setzt eine Person Technologien für Lehre, Forschung oder die Behandlung, Therapie, Betreuung und Pflege einer anderen Person ein, ist sie eine Sekundär-Userin.

Mehrwert durch User Einbezug
In erster Linie geht es beim User Einbezug um die Verbesserung der sogenannten Usability, also der Gebrauchstauglichkeit einer Technologie, um Ziele der Anwendung effizient zu erreichen. Hassenzahl und Kollegen (2009) gehen einen Schritt weiter. Sie betonen, dass das emotionale Erleben, die Wahrnehmung und Gefühle, die in Usern vor, während und nach der Nutzung einer Technologie entstehen, zentral für die Nutzung überhaupt sind. Deshalb sollen Technologien Emotionen und Bedürfnisse erfüllen und zu einem positiven Erleben beim Individuum führen. Bis vor einigen Jahren konzentrierte sich die Entwicklung auf Technologien des professionellen Alltags, z.B. Automobilindustrie, Administration oder Medizintechnik. Die digitale Transformation hat eine Kehrtwende eingeleitet. Technologien werden zunehmend für den individuellen Umgang mit Gesundheit und Krankheit und den Austausch mit Gesundheitsfachpersonen eingesetzt. Apps informieren, beraten und optimieren beispielsweise im Umgang mit Diabetes, Herzinsuffizienz oder erinnern an die Medikamenteneinnahme. Alarmierungs-Apps rufen nach einem Sturz oder in einer Notfallsituation nach Hilfe. Apps für Fitness und Bewegung fördern Leistung und Wohlbefinden. Körperliche Funktionseinbussen werden nicht mehr nur kompensiert, wie zum Beispiel durch Herzschrittmacher, Dialyse oder Prothetik, sondern immer mehr Technologien zielen auf eine Verbesserung des täglichen Umgangs mit Gesundheit und Krankheit ab und sind somit zunehmend im Bereich der Gesundheitsförderung und Prävention angesiedelt. Der Einbezug von Usern, um bedürfnisorientiert auf wesentliche Funktionen zu fokussieren, die Machbarkeit und das positive Erleben im Alltag zu erhöhen und die Bedienungsfreundlichkeit und Akzeptanz zu verbessern, wird daher dringlicher.

Modelle zum User Einbezug
Obwohl Vorgehensweisen und Konzepte zum Einbezug beschrieben sind, fällt auf, dass für den spezifischen Kontext von gesundheitsrelevanten Technologien noch kaum Modelle existieren. So scheint das Modell von Shah et al. (2009) eines der wenigen zu sein, welches im medizinischen Kontext klar aufzeigt, wie für die jeweilige Technologie relevante User kontinuierlich und iterativ mittels passender Methodik einbezogen werden. Dies geschieht in den folgenden vier Phasen: Idee- und Konzeptphase, Technologie (Re-)Design Phase, Phase der Prototyp Entwicklung und Testung bis hin zur Evaluation der in den Markt eingeführten Technologie.

Beispiel User Einbezug: Projekt AIDE-MOI
Aufbauend auf diesem Modell wurde das Projekt AIDE-MOI I von einem interdisziplinären Team an der BFH durchgeführt. Forscherinnen und Forscher des Fachbereichs Gesundheit und der Elektro- und Kommunikationstechnik entwickelten einen tragbaren Sturzsensor, der die Bedürfnisse und Ansprüche älterer, zuhause lebender Menschen früh berücksichtigte. Ausgehend von einem systematischen Literaturreview und der Teamexpertise wurde das Konzept AIDE-MOI entwickelt. Rückmeldung von insgesamt 22 Seniorinnen und Senioren aus der Designphase flossen in die Prototypentwicklung ein. Der Prototyp von AIDE-MOI wurde dann ein Jahr später von 15 Seniorinnen und Senioren, im Alter von über 74 Jahren, während neun Tagen im Alltag getestet. Die Technologie konnte soweit verbessert werden, dass die Markteinführung zurzeit vorbereitet wird, wobei eine erneute Testung mit einer grösseren Anzahl von Usern geplant ist. Da ältere Menschen sich in der digitalen Welt mehrheitlich fremd fühlen, ist ihr Einbezug besonders wichtig. Ihre Erfahrung mit der entstehenden Technologie und ihre Rückmeldungen ermöglichen das für die User entscheidende positive Erleben.

Anforderungen und Herausforderungen
User in die Entwicklung und Testung von Technologien einzubeziehen, benötigt zeitliche Ressourcen, hohe fachliche Kompetenz und spezifische Kommunikations- und Moderationsfähigkeiten. Entwickler und User gehen eine längerfristige Beziehung ein, die auf ein gegenseitiges Verständnis, eine adressatengerechte Kommunikation und eine angemessene Methodenwahl des Einbezugs angewiesen sind. Den Entwicklungsprozess userzentriert auszurichten, bedeutet, dass die User „wirklich“ Einfluss nehmen können und der Einbezug zu keiner Alibiübung verkommt. Unterschiedliche Herausforderungen können den Einbezug prägen: der Zugang zur Zielpopulation, ein fragiler Gesundheitszustand von Primär-Usern oder spezifische Unterstützung und Training, welche User benötigen, um sich an einer Entwicklung und Testung beteiligen zu können. Mit Usern zusammenzuarbeiten verlangt diese nicht zu überfordern, z.B. durch zu abstrakte technologische Innovationen und gleichzeitig die Bereitschaft der Entwickelnden, ein Technologiekonzept anzupassen. Es geht auch darum den Usern nachvollziehbar aufzuzeigen, wie Rückmeldungen in der Technologienentwicklung berücksichtigt wurden. Unter den Entwickelnden selbst braucht es hohe Motivation und Engagement für die interdisziplinäre Zusammenarbeit, besonders dann, wenn divergierende Interessen bezüglich Fokus Mensch und Fokus Technologie aufeinandertreffen.

Ausblick
Zahlreiche Erfahrungen zeigen auf, dass der Einbezug von Usern die Entwicklung von gesundheitsrelevanten Technologien innovativ beeinflussen kann. Welche Methoden, Prinzipien und Prozesse diese Entwicklung bestmöglich fördern und effizient gestalten, ist jedoch noch offen. Somit können die vorhandenen Kenntnisse, Erfahrungen und Überlegungen den Diskurs und die Forschungs- und Entwicklungspraxis stimulieren, um den herausfordernden aber hoch relevanten User Einbezug weiter voranzutreiben.


Literatur

  • Boger, M., Afuah, A. & Bastian, B. (2010) Users as Innovators: A Review, Critique, and Future Research Directions. In: Journal of Management, 36, 4, 857-75.
  • Burmester, M., Laib, M., Schippert, K. (2014) Interaktion als positives Erlebnis – Technologiegestaltung neu denken http://www.digital-ist.de/fileadmin/content/Presse___Downloads/Interaktion_als_positives_Erlebnis_-_Technologiegestaltung_neu_denken.pdf Zugriff am 19.03.2017
  • Hassenzahl, M., Exkoldt, K., Thielsch, M.T. (2009) User Experinece und Experience Design – Konzepte und Herausforderungen www.thielsch.org/download/Hassenzahl_UP09.pdf Zugriff am 26.03.17
  • Øvretveit, J., Wu, A., Street, R., Thimbleby, H., Thilo, F. & Hannawa, A. (2017) Using and choosing digital health technologies: A communication science perspective. In: Journal of Health Organization and Management, 31, 1, 28-37.
  • Shah S., Robinson I. (2008) Medical device technologies: who is the user. in: Int. J. Healthcare Technology and Management, 9, 2, 181-197.
  • Thilo F. J. S., Bilger S., Halfens R. J. G., Schols J. M. G. A. , Hahn, S. (2017). Involvement of the end user: exploration of older people’s needs and preferences of a wearable fall detection device – a qualitative descriptive study. in: Patient Preference and Adherence, 11, 11-22.
  • Thilo F. J. S., Hürlimann B., Hahn S., Bilger S., Schols J. M. G. A., Halfens R. J. G. (2016) Involvement of older people in the development of fall detection systems: a scoping review. in: BMC Geriatrics, 16, 42. doi:10.1186/s12877-016-0216-3
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AUTHOR: Friederike J. S. Thilo

Prof. Dr. Friederike Thilo ist Leiterin Innovationsfeld "Digitale Gesundheit", aF&E Pflege, BFH Gesundheit. Ihre Forschungsschwerpunkte sind: Design Zusammenarbeit Mensch und Maschine; Technologieakzeptanz; need-driven Entwicklung, Testung und Evaluation Technologien im Kontext Gesundheit/Krankheit; datenbasierte Pflege (Künstliche Intelligenz).

AUTHOR: Sabine Hahn

Prof. Dr. Sabine Hahn ist diplomierte Pflegefachfrau Psychiatrie, Pflege- und Gesundheitswissenschaftlerin und leitet die Abteilung Pflege und die Abteilung Forschung & Entwicklung Pflege an der BFH Gesundheit. Sie forscht in den Bereichen Qualitätsindikatoren und Qualitätsentwicklung, Personalkompetenzen und Service User Involvement, Psychosoziale Gesundheit sowie Technologie und Gesundheit. Sie ist zudem Schwerpunktverantwortliche Gesundheitsversorgung & E-Health am BFH-Zentrum Digital Society.

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