Digitalisierung zwischen Magie und Stupidity Management
Geht es um die Digitalisierung werden entweder altgediente Lösungen gepriesen und Befürchtungen geäussert oder aber die Hoffnung, dass die neue Technik auf wundersame Weise Wachstum und Fortschritt bringen möge. Beides ist verständlich. Aber wir brauchen ein dynamisches Weltbild, was nur aus Wissen und Know-How entstehen kann. Der Schlüssel dazu liegt darin, im richtigen Augenblick dumm und im richtigen Augenblick clever sein.
Ist Digitalisierung gut oder schlecht? Auf diese Frage kann nicht mit Ja oder Nein geantwortet werden, vielmehr lautet die Antwort: Sie bringt Chancen und Gefahren. Entscheidend ist die Art unserer Investitionen. Investieren wir in Daten? In Algorithmen? In Maschinen Computer und Roboter? In Wissen? In ökonomische oder soziale Valorisierung? Das sind einige der wichtigsten Fragen.
Beispiel: Big Data im Gesundheitswesen. Big Data ermöglicht eine personalisierte Präzisionsmedizin und eine vorausschauende Ressourcenplanung. Ein inadäquater Umgang mit Personendaten schafft aber auch Risiken für die Privatsphäre der Betroffenen und ihrer Nachkommen. So weit, so simpel. Dazu kommt: Während es für praktische Ärzte und die meisten Gesundheitsfachpersonen Knowhow im Umgang mit Werkzeugen braucht, ist für Forscher zusätzlich zum Knowhow im Umgang mit Spezialisten-Werkzeugen auch noch ein vertieftes Wissensfundament zu Big Data notwendig.
Leider werden in der Diskussion um Big Data im Gesundheitswesen Risiken und Chancen selten einander gegenübergestellt – und die Notwendigkeit zur Verbreitung von Knowhow und Wissen kommt nur äusserst selten zur Sprache. Ausnahmen bestätigen die Regel.
Stattdessen wird stillschweigend angenommen, dass die Risikobekämpfung gegenüber der Chancennutzung grundsätzlich Priorität hat – und dass es kein besonderes Knowhow und Wissen braucht. Im öffentlichen Diskurs dominiert zudem der Eigennutz über den sozialen Nutzen in einer Eindrücklichkeit, die alles Gerede von Werten Lügen straft. Wieder das Beispiel Big Data im Gesundheitswesen: „Wenn ich meine Daten nicht hergebe, alle anderen schon, bin ich erstens geschützt und kann zweitens trotzdem von der personalisierten Präzisionsmedizin profitieren.“ Einziges Problem: Wenn alle so handeln, gibt es den Nutzen für niemanden. Und hier stockt der öffentliche Diskurs. „Dann halt nicht“, denken sich viele.
Sinnvoll wäre es, hier weiterzudenken. Und einmal nicht um Wissenschaft zu treiben bzw. um Politik zu machen, sondern um zu Erkenntnissen zu gelangen. Die Fragen zum oben skizzierten Eigennutz-Problem lauten insbesondere: Wie muss die Datenhaltung und Datennutzung gestaltet werden, damit die Risiken minimiert und die Chancen trotzdem genutzt werden können? Welche Ausbildung und welche Kontrollen braucht es? Und: Wie kann man die resultierende Chancen-Risiken-Lage gut verständlich kommunizieren? So lange diese Fragen nicht überzeugend beantwortet werden, gibt es wenig Grund, auf Fortschritt im öffentlichen Diskurs und in der Praxis zu hoffen.
Der herrschende Dualismus der Weltbilder
Big Data im Gesundheitswesen ist nur ein Beispiel von vielen: Die öffentliche Debatte zu den Digitalisierungsthemen wird von einem Dualismus geprägt. Auf der einen Seite steht ein statisches Weltbild, ergänzt um normative und defensive Argumente, das Nachhaltigkeit als das Bewahren altgedienter Problemlösungen interpretiert. Auf der anderen Seite steht ein magisches Weltbild, in dem die Wunder der Technik Wachstum und Fortschritt schier aus dem Nichts versprechen und die Probleme der Welt in Serie abgearbeitet werden können.
Angesichts der Komplexität der digitalen Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft sind beide Weltbilder ein Stück weit verständlich. Der Erfolg der Evangelisten beider Weltbilder gibt auch beiden Recht. Sie scharen Anhänger um sich und gewinnen Aufträge. Mittel- bis langfristig droht der Dualismus aber die politische Handlungsfähigkeit zu paralysieren. Wer einen stabilen Staat mit Zukunftschancen für Einwohner und Unternehmer will, der sollte stattdessen von einem Weltbild ausgehen, in dem die Wirtschaft sich dynamisch verändert, das aber arm an Mirakeln und Mythen ist.
Es braucht die richtigen Vereinfachungen
Man kann ein solches dynamisches Weltbild – trotz seiner ihm eigenen Komplexität – durchaus einfach erklären und mit darauf aufbauend einfachen Modellen recht tiefe Analysen durchführen und fundierte Entscheide treffen – mindestens dann, wenn man sich bewusst ist, dass auch die besten einfachen Modelle nur 60 bis 80 Prozent der relevanten Aspekte erfassen und es immer auch das Spezialwissen braucht, um wirklich gute Entscheide treffen zu können.
Eine sinnvolle einfache Erklärung eines wirklichkeitsnahen dynamischen Weltbilds ist, dass die Dynamik vor allem im Wachstum von Wissen und Knowhow besteht. Ein dementsprechendes Modell ist das der ökonomischen Komplexität von Hausmann und Hidalgo. Hidalgo hat in seinem Buch „Wachstum geht anders“ recht überzeugend versucht, den Zusammenhang zwischen Erklärung und Modell darzustellen. Man muss aber weder das mathematische Konzept der ökonomischen Komplexität noch Hidalgos Erklärung des Wesens von Fortschritt verstehen, um erste grundsätzliche Schlussfolgerungen aus der Betrachtung der Dynamik von Wissen und Knowhow zu ziehen.
Erstens sind Wissen und Knowhow keine statischen, sondern sich dynamisch verändernde Ressourcen, die im Laufe der Menschheitsgeschichte stark gewachsen sind. Zweitens wissen wir aus der Vergangenheit, dass Wissen und Knowhow auch wieder verloren gehen können. Drittens wissen wir aus der Gegenwart, beispielsweise der letzten Bankenkrise, dass Wissen und Knowhow in vielen Situationen systematisch ausgeschaltet werden und das kurzfristigen Nutzen und langfristige Megarisiken mit sich bringt. Organisationen, voll von talentierten Menschen, können sehr dumm handeln und dabei viel verdienen, bis das System als Ganzes zusammenkracht. Viertens geht das Wachstum von Wissen und Knowhow langsam vor sich und findet auf verschiedenen Ebenen statt: In Individuen, in sozialen Gruppen, in Organisationen und im Staat. Dabei beeinflussen sich die Ebenen gegenseitig. Fünftens ist das Zusammenspiel des vorhandenen Wissens und Knowhows mit den Einsatzmöglichkeiten eben dafür wirkungsentscheidend. Innovationen brauchen in der Regel beides.
Schlussfolgerungen für das Handeln
Aus diesen Beobachtungen gilt es die richtigen Konsequenzen zu ziehen. Ich werde das hier nicht tun, weil damit sofort die Diskussion über die Schlussfolgerung eröffnet würde und der oben skizzierte Dualismus mit der vollen Macht der beiden primitiven Weltbilder die Diskussion dominieren würde. Es ist nur so: Die Zukunft liegt in der Entwicklung von Wissen und Knowhow. Dazu gehört auch die Meta-Perspektive: Wissen und Knowhow zur Entwicklung von Wissen und Knowhow. Letzteres nennt man neu Stupidity Management: Im richtigen Augenblick dumm und im richtigen Augenblick clever ist der eigentliche Unterschied zwischen den Förderern des Fortschritts und den Förderern von Rückschritt und Untergang.
Ich erlebe häufig – gefühlt sogar immer häufiger – dass genau dann, wenn Disziplin gefragt wäre, kreativ gedacht wird und dann, wenn freies Denken notwendig wäre, Disziplin praktiziert wird. Schlimmer noch: Wer dagegen konstruktiv ankämpft, der geht unter. Geduldet werden nur Querdenker, die an Problemlösungen nicht interessiert sind.
Wenn wir nicht wegen Selbstzufriedenheit und Mitläufertum untergehen wollen, sollten wir uns regelmässig und ernsthaft die Frage stellen: Trägt unser Handeln zum Wachstum von Knowhow und Wissen bei – und: Tut es das effizient? Die Naturgeschichte lehrt, dass wer zu langsam lernt, ausstirbt. Lernen verlangt Veränderung und Tun, das Denken zur rechten Zeit erhöht aber seine Effizienz.
Erschienen auf digitaleschweiz.ch
Dein Kommentar
An Diskussion beteiligen?Hinterlasse uns Deinen Kommentar!