Interview Teil II: «Die digitale Welt hat im Projektmanagement und im Event-Business schon viele Spuren hinterlassen.»
Martin Kallen ist in seiner Funktion verantwortlicher Organisator aller Fussball-Turniere der UEFA. Ernst Menet (Schwerpunktleiter Design for Future System Fitness und Dozent Berner Fachhochschule, BFH) hat mit ihm am 11.10.2016 am Sitz der UEFA in Nyon ein Gespräch geführt und interessante Einblicke in das Projektmanagement des UEFA-Zuschnitts erhalten. Lesen Sie hier den ersten Teil des Interviews.
Martin Kallen stammt aus Frutigen, vor seiner Zeit bei der UEFA war er unter anderem als Betriebsdisponent und Marketing-Fachmann bei den BLS tätig und hat in Bern die HWV absolviert, einer Vorgängerschule des Fachbereichs Wirtschaft der BFH.
Wie sehr ist der Fussball schon digitalisiert?
Die Produkte Fussball und EURO sind sehr stark digitalisiert. Die EURO 2016 war die letzte EURO mit papierbasierten Tickets, in Zukunft gibt’s diese voraussichtlich nur noch digital.
Wir bieten Apps statt Prospekte, wir nutzen NFC (Near Field Communication) zu Gunsten der Fans. Zimmerbuchungen, Auto teilen für Anreise, Vermarktung von Sponsoren-Angeboten, alles läuft digital. Wir sind sehr weit mit dem «gläsernen Fan», wir sammeln Daten, wir verkaufen Daten. Wir wissen auch, dass in naher Zukunft immer mehr Nutzer die Spiele auf dem Smartphone anschauen werden.
Wie steht’s um die Digitalisierung Ihres Kerngeschäfts, des Projektmanagements?
Die digitale Welt hat im Projektmanagement, im Event-Business punktuell diverse Spuren hinterlassen. Wir reisen weniger und machen weniger Besuche, sondern stützen uns stärker auf moderne Kommunikation mittels Videoconferencing, Chatting, Skype. Praktisch sämtliche Pläne, namentlich Baupläne, sind digitalisiert und damit können wir mit wenig Aufwand virtuelle Besichtigungen lange vor der baulichen Realisierung durchführen.
Ich plane und führe seit fast 20 Jahren Projekte für Grossanlässe, aber das Problem im Projektmanagement ist und bleibt, dass nach wie vor viele Leute keine Ahnung haben, was Projektmanagement eigentlich ist. Projekte werden schlecht geplant, Leute sind schlecht in der Budgetierung und schlecht in der Ressourcenzuteilung mit der Folge, dass wir immer mehr Geld in diese Bereiche stecken müssen.
Technologie ist in diesem Umfeld weniger wichtig. Ich bin schon froh, wenn ein sauberer Plan vorgelegt wird und wenn sie den mit MS-Project hinkriegen, dann bin ich glücklich. Heute hätten wir leitungsfähige Projektmanagement-Systeme zur Verfügung, ich habe solche auch eingesetzt, bin aber wieder davon abgekommen. Solange die User Mittelmass sind, bringen moderne Werkzeuge überhaupt nichts. Ich kriege regelmässig, wenn die Monats-Rapporte eingehen, Vögel.
Dabei wäre doch Projektmanagement spannend, es deckt alle Disziplinen der Betriebsökonomie ab, von den Finanzen über Personalführung bis hin zu Logistik und Materialwirtschaft. Ausserdem überlegt sich doch jeder, was er am nächsten Wochenende unternimmt, macht also eine Planung. Eine grosse Veränderung seit 2004 liegt wohl darin, dass alles sehr viel kurzfristiger geworden ist. 2004 waren die meisten Spiele ein Jahr im Voraus ausverkauft. Heute werden Tickets, Flüge, Hotels im letzten Moment gebucht. Man überlegt sich also erst am Freitag, was man am Samstag unternehmen will. Solche Kurzfristigkeit mag in gewissen Fällen genügen, aber derartiges Projektmanagement genügt für die Planung, Organisation und Durchführung von Grossanlässen nicht. Wie gehen Sie damit um?
Die Kurzfristigkeit wirkt sich auf den Stadionbesuch extrem aus. Tickets werden gebucht und bezahlt, aber viele Zuschauer kommen dann nicht mal. Das verlorene Geld spielt offensichtlich keine Rolle und der Umstand, dass mit diesem Verhalten tatsächliche erscheinende Fans unnötigerweise ausgeschlossen werden, spielt auch keine Rolle. Wir waren für die EURO 2016 in Frankreich vollständig ausverkauft, waren aber trotzdem nie zu 100% ausgelastet. Die durchschnittliche Auslastung bewegte sich im Bereich 85% – 95%. Aber wir hatten im Vorfeld des Turniers 14 x mehr Anfragen als verfügbare Tickets! 1-2% No-Shows sind normal, aber 5 – 15% Absenzen!? Ähnliche Beobachtungen konnte man am ESAF 2016 machen: ganze Sponsorensektoren blieben leer. Dabei hätte es beliebig viele Schwingfreunde gehabt, die leergebliebene und leer gewordene Plätze liebend gerne bezahlt und belegt hätten.
Digitalisierung könnte helfen: wenn einer rausgeht, könnte man einen anderen reinlassen. Wie hatten nie zuvor so gute Zahlen wie heute: wir wissen genau, wie viele sind drin, wie viele draussen.
Kurzfristigkeit ist in der Tat eine der grösseren Herausforderungen, die auf uns zu kommt. Es geht letztlich nicht nur um sehr viel Geld, sondern auch um sehr viel Sicherheit. Wir werden immer weniger Zeit haben, die Zuschauer zu identifizieren und zu lokalisieren. Dass die Medien dann verbreiten, was da wieder für ein Chaos geherrscht habe, ist noch das geringere Übel.
Zurück zur Digitalisierung: sie funktioniert an der Kundenfront. Funktioniert sie auch im ‘Hinterland’, z.B. mit den Sicherheitsbehörden?
Jein. Es kommt immer drauf an, ob die richtigen Daten vorhanden sind, ob sie lesbar aufbereitet sind und ob nicht ein Datenschutzgesetz im Weg steht. Die Behörden gewisser Länder sind sehr gut vorbereitet, wenn auch nicht alle. Eine wichtige Rolle spielen auch jene Daten, die man von Verbänden erhalten kann. Nicht selten aber steht der Schutz der Daten eines Individuums über der Sicherheit der Stadionbesucher und oft ist einfach auch die Datenlage zu schwach.
Wie sehen Sie die Zukunft, insbesondere bezogen auf die EURO 2020?
Für die EURO 2020 haben wir eine völlig neue Ausgangslage. Sie findet nicht mehr in einem oder in zwei benachbarten Ländern statt, sondern in 13 Städten in 13 Ländern. Die neuen Herausforderungen bestehen unter anderem darin, dass wir uns beispielsweise gleichzeitig mit unterschiedlichen Gesetzgebungen zu befassen haben, dass wir ganz andere logistische Leistungen zu erbringen und zu koordinieren haben etc.
Andererseits werden viele Leistungen einfacher zu erbringen sein, weil die entsprechende Basis längst besteht und hundertfach getestet ist. Der öffentliche Verkehr existiert in den 13 Städten, da braucht’s höchstens punktuelle Kapazitätsanpassungen. Alle Stadien sind, bis auf zwei, vorhanden, wir werden uns also massiv weniger um Bauten kümmern müssen. Die neu zu erstellenden Stadien in Brüssel und Budapest machen uns viel weniger Sorgen, es sind nur 2 von 13. Wir können somit auf einer luxuriösen Infrastruktur-Basis mit entsprechend geringen Risiken aufsetzen.
Umgekehrt werden wir noch einige Überlegungen hinsichtlich der Matchpläne machen müssen, um die Städtereisen sowohl der Mannschaften wie auch der Fans zu minimieren.
Fragen hinsichtlich der Ticketpreise sind offen: Werden die Preise von Land zu Land unterschiedlich sein? Werden die Preise der örtlichen Kaufkraft anzupassen sein?
Wie bereits erwähnt, erwarten wir erhebliche Zusatzaufwände in den Bereichen Logistik und Kommunikation. Gute Plattformen und frühzeitige Planung werden Kosten-dämpfend wirken.
Ausserdem wollen wir die Einnahmen steigern und dafür sorgen, dass die Kosten nicht explodieren. Wir rechnen auf alle Fälle mit Mehrkosten, schon alleine hinsichtlich der riesigen Datenmengen für TV-Übertragungen.
Die Nachhaltigkeit wird weniger im Vordergrund stehen als auch schon. Die Infrastrukturen in den betroffenen Städten sind bereits in Betrieb und werden es nach der EURO 2020 bleiben. Wir werden Schäden minimieren, wo immer das möglich ist, aber grosse Events werden leider nie ganz grün sein.
Auch die Digitalisierung wird fortschreiten, namentlich auch im Zusammenhang mit dem Produkt Fussball selbst. E-Sports ist ein Schlagwort der unmittelbaren Zukunft, dabei geht es um die vollständige und präzise Erfassung sämtlicher Daten der Spiele im und rund um das Stadion. Diese Daten sind beispielsweise Grundlage für die Lenkung der Fans, aber auch für Angebote an die Fans. Sie dienen der Optimierung von Spielern und Mannschaften im Training und während der Spiele, für die Aus- und Weiterbildung von Fussballern, Trainern, Pflegern, Sportmedizinern und Schiedsrichtern bis hin zur Sportwissenschaft und zur lebensechten Ausgestaltung von Computerspielen.
Fussballstadien und Fussballfelder sind hervorragende Versuchs- und Anwendungsgelände für das Internet of Things.
Herr Kallen wir bedanken uns für das hochinteressante und aufschlussreiche Gespräch.
Lesen Sie hier den ersten Teil des Interviews mit Herrn Martin Kallen mit dem Titel: «I don’t like it!»… kein optimaler Start für einen Projektmanager.
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