Das beste Modell eines Huhns ist immer noch das Huhn selbst

Modelle stellen die Realität in vereinfachter Weise dar. Deshalb sind sie falsch. Die Beachtung weniger, vernünftiger Grundsätze sorgt dafür, dass auch falsche Modelle nützlich sein können.

Seit Menschen denken können, haben sie sich Sachverhalte vorgestellt und aufgezeichnet, sie haben Modelle gebildet. Zweckmässige Annahmen und Vereinfachungen helfen, die Komplexität der Realität zu reduzieren und damit den modellierten Sachverhalt überhaupt handhabbar zu machen. Allerdings darf man Albert Einstein nicht vergessen, der einmal gesagt haben soll: „Mache die Dinge so einfach wie möglich – aber nicht einfacher“.

Wegen der Annahmen und Vereinfachungen sind Modelle zwar unvollständig und falsch, aber nicht notwendigerweise wertlos. Ein unvollständiges, aber dennoch höchst nützliches Modell ist die Mechanik von Newton, welche später mit der relativistischen und mit der Quanten-Mechanik vervollständigt wurde. Auch in seiner unvollständigen Form genügt das Newton‘sche Modell den meisten praktischen Belangen. Nur wenn gewisse Annahmen oder Parameter extreme Werte erreichen (Geschwindigkeiten nahe der Lichtgeschwindigkeit, Partikelgrössen sehr viel kleiner als Atomdurchmesser), sind Modellverfeinerungen notwendig.

Falsche und überholte Modelle gehören in den Müll
Falsche oder falsch gewordene Modelle sind schädlich, leider gibt es sie zuhauf. Es fällt zudem auf, wie oft wider besseres Wissen verbissen und hartnäckig an solch falschen Modellen festgehalten wird. Zwei dieser zu falschen, aber unsterblichen Modelle sind: „Die Sonne dreht sich um die Erde“ und „Die Erde ist flach“.

Im 4. Jahrhundert vor Christus haben Plato und sein Student Aristoteles das Modell erdacht, wonach die Erde im Mittelpunkt des Planetensystems steht. 600 Jahre später hat Claudius Ptolemäus dieses geozentrische Modells detailliert beschrieben. 1543 begann die Wende: Kopernikus hat die Sonne in den Mittelpunkt des Modells und damit vor allem die kirchliche Welt auf den Kopf gestellt. Es brauchte die Genialität von Johannes Kepler und Galileo Galilei, um die entscheidenden Modellverbesserungen anzubringen (Elliptische statt kreisrunde Bahnen der Planeten) und damit Kopernikus‘ Behauptung zu validieren. Papst Urban VIII und dessen Inquisitor Niccolò Riccardi haben Galilei trotz der klaren Beweise wegen seines falschen Glaubens an das richtige Modell zu lebenslänglichem Hausarrest verurteilt. Papst Johannes Paul II hat Galileo 1992 halbherzig rehabilitiert, indem er eher konfus von einem „schmerzlichen Missverständnis“ zwischen Kirche bzw. der Bibel und Wissenschaft gesprochen hat. Die Wende, die Kopernikus ausgelöst hat, ist nach beinahe 600 Jahren noch nicht zu Ende.

Die Geschichte belegt eindrücklich, dass es nicht nur schwierig ist, gute Modelle zu erstellen, sondern auch, Modellmängel zu erkennen und zu korrigieren. Und oft ist es noch viel schwieriger, lieb gewordene, aber allzu falsche Modelle zu entsorgen.

Modelle und gesunder Menschenverstand
1968 hat Solomon W. Golomb seinen ebenso kurzen wie bemerkenswerten Artikel „Mathematical Models: Uses and Limitations“ publiziert. Weil die darin dargestellten „Do’s and Dont‘s of Mathematical Modeling“ nicht nur für mathematische Modelle gelten und heute genauso aktuell sind wie vor über vierzig Jahren, ist es sinnvoll, sich diese vier einfachen Selbstverständlichkeiten – heute oft und gerne auch Best Practices genannt – wieder einmal vor Augen zu führen.

„No model is ever a perfect fit to reality. Deductions based on the model must be regarded with appropriate suspicion“

Sie sollten den Ergebnissen der 33. Ordnung aus einem Modell der ersten Ordnung nicht vertrauen, sondern sie cum grano salis behandeln.

Die Prandtl-Glauert-Transformation für Strömungs-Kompression führt bei Mach 1 zu einer Singularität (Division durch 0), was wiederum heisst, dass die Schallmauer nicht durchbrochen werden kann. Deshalb gilt das Modell im Bereich von Mach 0.7 bis Mach 1.3 nicht.

Sie sollten nie über die Modellgrenzen hinaus extrapolieren. Sie springen ja auch nicht kopfüber in ein leeres Schwimmbecken. Ein Bassin ohne Wasser ist eben jenseits der Modellgrenzen eines Schwimmbeckens.

Verwenden Sie nie ein Modell, solange Sie dessen Vereinfachungen und Annahmen nicht vollständig verstanden haben und solange die Anwendbarkeit des Modells auf Ihre Aufgabe nicht gesichert ist. Anders gesagt: Halten Sie sich exakt an die Gebrauchsanweisung.

Die Finanzindustrie hat es in der jüngeren Zeit wiederholt geschafft, ihre eigenen Modelle ad absurdum zu führen: 1994 gründete die Crème de la Crème dieser „Industrie“ unter anderen mit Myron S. Scholes und Robert C. Merton, (Ökonomie-Nobelpreis 1997 für das Black-Scholes-Modell für Options-Pricing) den Hedge-Fonds LTCM, um mit ihrem Modell das grosse Geld zu machen. Vier Jahre später krachte der Fonds mit USD 4.6 Mia Schulden zusammen (was unter anderem schon damals der UBS einen Milliardenschaden
beschert hat). Der Grund? Man darf annehmen, dass zumindest die Herren Scholes und Merton die ihrem Modell zugrunde liegenden Annahmen verstanden haben. Aber wie so oft, hat sich die Realität nicht an das Modell gehalten. Das Modell geht von einer Anzahl Normalitäten aus, versagt aber bei extremen Ereignissen. Die Finanzkrise in Russland war jenes Extrem-Ereignis, das LTCM praktisch über Nacht zu Fall brachte.

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Lowenstein, Roger (2000). When Genius Failed: The Rise and Fall of Long-Term Capital Management. Random House. ISBN 0-375-50317-X

Der Zusammenbruch des LTCM-Fonds entwickelte eine enorme Hebelwirkung in den Verlustrechnungen eines grossen Teils der weltweiten Finanzindustrie und erforderte eine massive Rettungsaktion (Aufwand USD 3.625 Mia) unter der Führung der US-Notenbank.

Was hat man daraus gelernt? Praktisch nichts. Das Black-Scholes-Modell wird nach wie vor weltweit für das Options-Pricing verwendet. Das nächste Extrem-Ereignis wird kaum auf sich warten lassen.

„Distinguish at all times between the model and the real world“

Verwechseln Sie nie das Modell mit der Realität. Oder essen Sie im Restaurant et-wa die Speisekarte? Flugsimulatoren, 3-D-Fernsehen, 3-D-Plotter, virtuelle Welten sind fast perfekte Modelle der Realität. Fast. Sie sind nicht die Realität.

Unter der Führung der EPFL (Henry Markram) wollen 13 namhafte europäische Forschungsinstitute unter dem Titel Human Brain Project (HBP) mit über einer Milliarde Euro in den nächsten zehn Jahren nichts weniger als das menschliche Gehirn vollständig simulieren. Es verwundert nicht, dass sich andere Wissenschaftler gegen das Projekt wehren, weil ihnen wegen des enormen Abflusses in das HBP die Mittel für ihre Forschungsprojekte fehlen werden. Rodney Douglas von der ETHZ argumentiert deshalb, dass ein solches Modell die Realität nicht abbilden könne. Der Sachverhalt sei gleich wie bei den Wettermodellen: so ausgefeilt die Simulationen auch sein mögen, im Computer regne es nie. Er hat natürlich recht: es gibt kein perfektes Modell für das Gehirn, ausser dem Gehirn selbst. Aber vielleicht ist das Modell des HBP so nahe an der Realität, dass wir dennoch viel daraus lernen und erfahren können.
Passen Sie gegebenenfalls das Modell der Realität an, und nicht umgekehrt. Aus der griechischen Mythologie ist Prokrustes (der ‚Strecker‘) bekannt. Er hat seine Gä-te jeweils bestens verpflegt, aber dann die grossen Gäste in ein zu kleines Bett gesteckt und ihnen die Füsse abgehackt. Den kleingewachsenen Gästen hat er ein zu grosses Bett zur Verfügung gestellt und sie entsprechend gestreckt.

Was nicht passt, wird passend gemacht.
Prokrustes hat sein grausiges Tun nicht überlebt. Theseus, eine der kräftigeren Gestalten der griechischen Mythologie, hat den Bösewicht in ein zu kurzes Bett gelegt, und ihn nicht an den Füssen, sondern am Kopf gekürzt. Sein Bett aber, respektive das Modell des Betts, und seine Methode sind der Nachwelt bis heute erhalten geblieben.

Modernere Formen des Anpassens der Realität auf ein Modell finden sich unter anderem in der Pharma-Industrie, die bisweilen Krankheiten auf die verfügbaren Pharma-Produkte ‚anpasst‘.

Pharmaceutical companies are better at inventing diseases
that match existing drugs, rather than inventing drugs
to match existing diseases.
Nassim N. Taleb

Ausserdem ist es lukrativ, Krankheiten und dazu passende Medikamente zu erfinden (Disease Mongering). Ein Modell für eine inexistente Krankheit mag aus medizinischer Sicht wenig hilfreich sein, als Business-Modell hingegen kann es durchaus seine Attrakti-vität haben.

There’s a lot of money to be made from
telling healthy people they’re sick.
Ray Moynihan

Beschränken Sie sich nicht auf ein einziges Modell. Um verschiedene Aspekte ei-nes Phänomens zu verstehen, ist es oft nützlich, mehrere Modelle zu verwenden. Für Sol Golomb ist diese Erkenntnis augenzwinkernd ein guter Grund, Polygamie zu legalisieren.
In der Tat wurden beispielsweise in der Physik wiederholt grosse Fortschritte erzielt, wenn sich die Forscher mittels unterschiedlicher Modelle den Phänomenen genähert haben. Ein berühmter Vertreter dieser Klasse von Modellen ist der Welle-Teilchen-Dualismus für das Licht. Die bisher kompletteste Zusammenführung der beiden Modelle ist die Quantenelektrodynamik.

„A model must be permitted to evolve as conditions change or as additional data become available“

Halten Sie nie an überholten Modellen fest. Die Dakota-Indianer steigen ab, wenn sie feststellen, dass sie auf einem toten Pferd sitzen. Gerade die Sozialwissenschaften – viel ausgeprägter als die Naturwissenschaften – sehen sich laufend veranlasst, die Aktualität ihrer Modelle zu überprüfen und allenfalls neuen, veränderten Verhältnissen anzupassen. Aber allzu oft tun sie genau das Gegenteil und halten viel zu lange an alten Zöpfen fest. So können wir heute hilflos zuschauen, wie es die Schweizer Banken im Nachgang zu den wiederholten Finanzkrisen versäumt haben, ein neues Swiss-Banking-Modell zu erfinden und nun das alte Modell durch verschiedenste Kräfte mit diametralen Interessen in Schutt und Asche gelegt wird. Noch grotesker ist der Umstand, dass diverse Banken solche Auslaufmodelle neu einführen.

Verlieben Sie sich nicht in Ihre Modelle. Sie sind nicht Pygmalion und Ihr Modell ist weit entfernt von der Eleganz und Schönheit Galateas. Halten Sie Abstand, seien Sie kritisch und selbstkritisch.

Daten, die nicht in Ihr Modell passen, geben Anlass, Ihr Modell zu überprüfen und anzupassen und nicht die unpassenden Daten auszuschliessen. Johannes Kepler hat dies in extremis vorgemacht: Er war überzeugt, dass das heliozentrische Modell von Kopernikus korrekt sein musste, aber das Modell durch seine ungenauen astronomischen Messungen nur ungenügend gestützt wurde. In einem genialen Streich hat er sich der für die damalige Zeit ausserordentlich präzisen Messungen des Geozentrikers Tycho Brahe bedient, und damit ironischerweise das heliozentrische Modell bestätigt.

„A useful model must serve practical ends.“

Wenden Sie die Begriffe des Sachverhalts A nicht auf den Gegenstand B an, wenn es weder A noch B nützt. Das ist schlimmer als neuer Wein in alten Schläuchen.

Glauben Sie nicht, Sie hätten den Dämon vernichtet, nur weil Sie einen Namen dafür haben. Das hat bislang nur die Müllerstochter mit Rumpelstilzchen geschafft.

Aktuelle Beispiele in dieser Hinsicht liefert wiederum die Finanzindustrie: Für den Umstand, dass eine zu grosse Finanzinstitution den Volkswirtschaften und Staaten enormen Schaden zufügen kann, wurde, allen voran von den versagenden Bankern selbst, das Business-Modell „Too big to fail“ aufgewärmt. Politisch heisst dies weit harmloser „systemrelevant“ und war die Begründung für gewaltige Rettungsaktionen maroder Unternehmen durch den Steuerzahler. Trotzdem existiert das zweifelhafte Business-Modell „Too big to fail“ weiterhin, es wurde nicht entsorgt und kann jederzeit die nächste Krise auslösen.

Noch bedenklicher ist der Umstand, dass die Regierungen und Nationalbanken (auch in der Schweiz) der „Too big to fail“-Behauptung und damit einem falschen und unvollständigen Modell Glauben geschenkt und deshalb nur ungenügende Massnahmen ergriffen haben. Zum einen ist keine ernsthafte ökonomische Untersuchung bekannt, die nachvollziehbar belegt, welche Auswirkungen der Untergang eines so genannt „systemrelevanten“ Unternehmens tatsächlich hätte. Und zum anderen ist das Modell in tendenziöser Weise unvollständig. Das vollständige Modell hat der Wirtschaftswissenschafter Hyman P. Minsky im letzten Jahrhundert beschrieben (Minsky-Kollaps): „If it’s too big to fail, it’s too big“. Aus diesem vollständigeren Modell folgt der direkte Schluss, dass Staat und Gesellschaft nicht dafür sorgen sollten, dass ein „systemrelevantes“ Unternehmen nicht untergehen darf, sondern dass es soweit schrumpfen muss, dass es mit verkraftbarem Schaden untergehen kann.

Verwenden Sie nicht gestelzte Terminologie und Ausdrücke, nur um nicht Eingeweihte zu beeindrucken oder zu verwirren. Verwenden Sie Ausdrücke, um Einsichten zu gewinnen und die Verwendung der Modelle zu erleichtern.

All models are wrong, but some are useful.
George E. Box and Norman R. Draper

 


Literatur:

Solomon W. Golomb; Mathematical Models – Uses and Limitations;
Astronautics & Aeronautics Magazine ; Jan 1968 ; pp 57-59.


Dieser Beitrag wurde in der Augustausgabe 2012 (S.4) des Kundenmagazins der Berner Fachhochschule «Präsenz» erstmals publiziert.

Creative Commons Licence

AUTHOR: Ernst Menet

Schwerpunktverantwortlicher Design for Future System Fitness, BFH-Zentrum Digital Society.
Dozent für Projektmanagement, Departement Wirtschaft, Berner Fachhochschule

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